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Winterträume

Winterträume

Titel: Winterträume Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: F. Scott Fitzgerald
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aus New York.«
    »Heute Abend ist alles ein bisschen verrückt«, verkündete Percy mit verängstigter Stimme. »Die ganze letzte Stunde lang hab ich andauernd das Geräusch von Rudern gehört.«
    Die Augenlider von Tante Jo und Tante Cal flatterten simultan nach oben.
    »Überall am Point ist Nebel«, fuhr Percy verstört fort, »und da sind Stimmen drin. Ich konnte keinen halben Meter weit sehen, aber ich könnte schwören, da warn Boote nah am Ufer, und ich hab ein Dutzend Leute miteinander reden und einander rufen hören, als wenn ein Haufen Gespenster ein Picknick veranstalten würde.«
    »Was war das für ein Geräusch?«, schrie Tante Jo, die jetzt kerzengerade dasaß.
    »Die Tür war verschlossen«, erklärte Percy, »darum hab ich mit meinem Gewehr angeklopft.«
    »Nein, ich meine gerade eben!«
    Sie lauschten. Durch die offene Tür drang ein tiefes, stöhnendes Geräusch, das aus dem dunklen Nebel kam, der Ufer und Meer gleichermaßen einhüllte.
    »Wir gehen hinunter und sehen nach!«, rief Doktor Gallup, dessen erschüttertes Gleichgewicht sich wieder stabilisiert hatte. Als das klagende Geräusch erneut herüberwehte, wie der gequälte Todesschrei eines Meeresungeheuers, fügte er allerdings hinzu: »Ich glaube, heute Abend bräuchten Sie hier mehr als nur einen Psychoanalytiker. Gibt es noch eine Waffe im Haus?«
    Tante Cal erhob sich und entnahm der Schublade ihres Sekretärs einen kleinen Revolver mit Perlmuttgriff.
    »Sie können uns doch hier im Haus nicht allein lassen«, erklärte sie mit Nachdruck. »Wo immer Sie hingehen, wir bleiben bei Ihnen!«
    Dicht beieinander gingen die vier – denn Fifi war plötzlich verschwunden – hinaus und die Verandastufen hinunter, wo sie einen Moment unschlüssig in den undurchdringlichen Dunst hineinstarrten, der in ihren Augen mehr Geheimnisse barg als jede Dunkelheit.
    »Da draußen ist es«, flüsterte Percy, dem Meer zugewandt.
    »Also vorwärts!«, murmelte Doktor Gallup angespannt. »Ich neige zu der Annahme, dass es sich hier um eine reine Nervensache handelt.«
    Langsam und schweigend tasteten sie sich den Strand entlang, bis Percy plötzlich den Arm des Doktors packte.
    »Hören Sie!«, zischte er.
    Alle erstarrten. Aus der nahen Dunkelheit war eine düstere, verschwommene Gestalt aufgetaucht, die unnatürlich steif über den Sand schritt. Gegen ihren Körper gepresst trug sie ein langes, dunkles Tuch, das fast den Boden berührte. Sie wurde augenblicklich wieder vom Nebel verschluckt, gefolgt von einem zweiten Phantom mit der gleichen militärischen Haltung, an dessen Arm etwas Weißes, Unheimliches baumelte. Wenig später breitete sich keine zehn Meter weit von ihnen entfernt in der Richtung, in die die Gestalt verschwunden war, ein schwacher Lichtschein aus, dessen Quelle anscheinend hinter der größten der Dünen lag.
    Aneinandergedrängt bewegten sie sich auf diese Düne zu, zögerten kurz und ließen sich dann, dem Beispiel Doktor Gallups folgend, auf ihre Knie nieder, um vorsichtig die strandwärts gerichtete Dünenseite hinaufzukriechen, dem stärker werdenden Lichtschein entgegen. Am höchsten Punkt angelangt, streckten sie gleichzeitig die Köpfe über den Dünenkamm. Ihnen bot sich folgender Anblick:
    Im Licht von vier starken Taschenlampen in den Händen von vier Matrosen in makellosen weißen Uniformen, stand ein nur mit Shorts und Unterhemd bekleideter Herr im Sand und rasierte sich. Vor seine Augen hielt ein untadeliger Diener einen silbernen Spiegel, der die schaumbedeckte Ansicht seines Gesichts reflektierte. Rechts und links von ihm standen zwei weitere Bedienstete, einer mit der Jacke und der Hose eines Smokings über dem Arm, der andere mit einem weißen, gestärkten Oberhemd, dessen Manschettenknöpfe im Licht der elektrischen Lampen glitzerten. Es war kein Laut zu hören außer dem leisen Kratzen der Rasierklinge über das Gesicht ihres Benutzers und dem stöhnenden Geräusch, das in Abständen vom Meer herüberdrang.
    Doch nicht der bizarre Charakter dieser Zeremonie mit ihrer dunstigen, irrealen Kulisse im flackernden Licht der Taschenlampen war es, der den beiden Frauen ein kurzes, unfreiwilliges Seufzen entlockte. Es war die Tatsache, dass das Gesicht im Spiegel, vielmehr seine unrasierte Hälfte, ihnen schrecklich bekannt vorkam. Binnen eines Augenblicks fiel ihnen ein, zu wem dieses halbe Gesicht gehörte – es war das Antlitz des verwilderten Verehrers ihrer Nichte, der seit kurzem halbnackt den Strand unsicher

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