Winterträume
verschiedene Gesichter haben, woher wissen wir denn, dass Sie in einem Ihrer geistesabwesenden Momente nicht der Mörder sind, der sich am Point versteckt hält?«
»Der Mörder?«, fragte Van Tyne verwirrt. »Welcher Mörder?«
»Ah, lassen Sie mich das erklären, Miss Marsden.« Doktor Gallup lächelte bedauernd. »In Wirklichkeit hat es gar keinen Mörder gegeben.«
»Keinen Mörder?« Tante Cal musterte ihn kritisch.
»Nein, den Bankraub und den entflohenen Mörder, das habe ich alles erfunden. Ich wollte Ihrer Nichte damit nur so eine Art starker Medizin verabreichen.«
Tante Cal sah ihn verächtlich an und wandte sich ihrer Schwester zu. »Nicht alle deine modernen Ideen sind so glücklich wie Mah-Jongg«, bemerkte sie bedeutungsvoll.
Der Nebel war aufs Meer zurückgewichen, und als sie in Sichtweite des Hauses kamen, leuchteten die Lampen in die Dunkelheit hinaus. Auf der Veranda wartete eine makellose junge Frau in einem strahlend weißen Kleid, das mit Perlenschnüren bestickt war, die im klaren Mondlicht schimmerten.
»Der vollkommene Mann«, murmelte Tante Jo und wurde dabei rot, »ist natürlich der, der jedes Opfer bringt.«
Van Tyne antwortete ihr nicht; er war damit beschäftigt, ein nicht wahrnehmbares Fläumchen, unauffälliger noch als ein Haar, von seinem Ellbogen zu entfernen, und nachdem er das getan hatte, lächelte er. Jetzt war nicht mehr die leiseste Unvollkommenheit an ihm zu entdecken, außer dort, wo heftiges Herzklopfen den Satinaufschlag seines Smokings kaum merklich aus der Fasson brachte.
Früher Erfolg
Diesen Monat ist es siebzehn Jahre her, dass ich meine Arbeit an den Nagel gehängt oder mich, wenn Sie so wollen, aus dem Geschäftsleben zurückgezogen habe. Ich hatte es satt – sollte doch die Street Railway Advertising Company aus eigener Kraft weitermachen. Ich kündigte nicht aufgrund von Gewinnen, sondern meiner Verluste wegen, wozu Schulden, Verzweiflung und eine gescheiterte Verlobung gehörten, und so kam ich nach St. Paul zurückgekrochen, um »einen Roman zu Ende zu schreiben«.
Dieser Roman, den ich gegen Ende des Krieges in einem Ausbildungslager begonnen hatte, war mein letzter Trumpf. Ich hatte ihn zur Seite gelegt, als ich eine Anstellung in New York fand, doch war er mir immer im Bewusstsein geblieben, so wie einen ganzen trostlosen Frühling lang jener Schuh mit Pappe in der Sohle. Es war wie die Sache mit dem Wolf, dem Schaf und dem Kohlkopf: Hörte ich zu arbeiten auf, um den Roman zu Ende zu schreiben, verlor ich das Mädchen.
Also plagte ich mich in einem mir verhassten Geschäft weiter, und alles Selbstvertrauen, das ich in Princeton und im Lauf einer stolzen Karriere als schlechtester Flügeladjutant der Armee gewonnen hatte, schwand dahin. Verloren und vergessen entfernte ich mich von so manchem Ort sehr schnell – vom Pfandleihhaus, wo ich den Feldstecher gelassen hatte, von den wohlhabenden Freunden, denen ich in einem Vorkriegsanzug über den Weg lief, aus dem Restaurant, wo ich meinen letzten Heller fürs Trinkgeld ausgegeben hatte, aus den heiter-betriebsamen Büros, die ihre Stellen für die eigenen Kriegsheimkehrer freihielten. Nichts als Kleingeld in der Tasche. Ergab es einen ganzen Dollar? Beinahe – wären die zwei Briefmarken nicht gewesen. Und wenn man weniger als einen Dollar hat, wird alles anders, die Menschen sehen anders aus, das Essen sieht anders aus.
Selbst als zum ersten Mal eine meiner Geschichten angenommen wurde, versetzte mich das nicht in Begeisterung. Dutch Mount und ich saßen uns in unserem Straßenbahnreklame-Büro gegenüber und erhielten beide mit derselben Post eine Zusage von derselben Zeitschrift – der alten Smart Set.
»Ich habe einen Scheck über dreißig – und du?«
»Fünfunddreißig.«
Das Bedrückende war, dass ich meine Geschichte bereits zwei Jahre zuvor auf dem College geschrieben hatte und ein Dutzend andere nicht einmal eines persönlichen Briefs für wert befunden worden waren. Das sollte mir wohl sagen, dass ich mich mit zweiundzwanzig Jahren auf dem absteigenden Ast befand. Für die dreißig Dollar kaufte ich einen purpurroten Federfächer für ein Mädchen in Alabama.
Diejenigen unter meinen Freunden, die nicht verliebt waren oder »vernünftige« Mädchen hatten, die auf sie warteten, wappneten sich mit Geduld für eine lange Durststrecke. Ich nicht – ich war in einen Wirbelwind verliebt und musste ein Netz spinnen, das groß genug war, um ihn mit dem Kopf allein zu fangen,
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