Winterträume
Uhr ließ Evylyn sich von Hilda ablösen und ging in ihr Zimmer, wo sie mit einem Schauder aus ihrem Abendkleid stieg und es mit einem Fußtritt in eine Ecke beförderte. Sie zog ein Hauskleid an und kehrte ins Kinderzimmer zurück. Hilda kochte Kaffee.
Erst gegen Mittag brachte sie es über sich, einen Blick in Harolds Zimmer zu werfen. Er war wach und starrte unglücklich an die Decke. Er wandte den Kopf und sah sie aus leeren, rotgeäderten Augen an. Für einen Augenblick hasste sie ihn so sehr, dass sie kein Wort herausbrachte. Vom Bett ertönte seine heisere Stimme.
»Wie spät ist es?«
»Mittag.«
»Ich hab mich wie ein Idiot –«
»Das ist jetzt egal«, sagte sie schroff. »Julie hat eine Blutvergiftung. Sie wird –« Ihr brach die Stimme. »Sie werden ihr wahrscheinlich die Hand abnehmen müssen.«
»Was?«
»Sie hat sich geschnitten. An dieser… dieser Schüssel.«
»Gestern?«
»Was spielt das für eine Rolle?«, rief sie. »Sie hat eine Blutvergiftung. Hast du nicht gehört?«
Er sah sie verwirrt an und setzte sich auf.
»Ich werde mich anziehen«, sagte er.
Ihre Wut verflog, und eine große Welle von Müdigkeit und Mitleid mit ihm kam über sie. Immerhin war es ja auch sein Kummer.
»Ja«, sagte sie tonlos, »das ist wohl das Beste.«
IV
Wenn Evylyns Schönheit in ihren frühen Dreißigern noch gezögert hatte, sich zu zeigen, so kam es bald zu einer abrupten Entscheidung, und sie wich ganz und gar. Das zaghafte Netz aus Falten auf ihrem Gesicht grub sich plötzlich tiefer in die Haut, und ihre Arme, Hüften und Beine wurden rapide fülliger. Ihre Angewohnheit, die Brauen zusammenzuziehen, verfestigte sich zu einem Gesichtsausdruck – er war immer da, ob sie nun las oder sprach, ja sogar wenn sie schlief. Sie war jetzt sechsundvierzig.
Wie die meisten Paare, mit deren Leben es eher bergab als bergauf geht, waren Evylyn und Harold langsam in einem farblosen Gegeneinander versunken. Im Ruhezustand betrachteten sie einander mit jener Nachsicht, die sie für einen alten, zerbrochenen Stuhl aufgebracht hätten. Evylyn sorgte sich ein wenig, wenn Harold krank war, und versuchte, so fröhlich wie möglich zu sein, um der bedrückenden Tristesse, die das Leben mit einem enttäuschten Mann mit sich brachte, zu begegnen.
Der Familien-Bridgeabend war vorbei – sie seufzte erleichtert. Sie hatte mehr Fehler als sonst gemacht, doch das war ihr gleichgültig. Irene hätte nicht diese Bemerkung machen dürfen, dass es bei der Infanterie besonders gefährlich sei. Seit drei Wochen war kein Brief mehr gekommen, und obgleich das nichts Ungewöhnliches war, machte es sie jedes Mal nervös. Natürlich hatte sie nicht mitgezählt, wie oft Kreuz bereits ausgespielt worden war.
Harold war hinaufgegangen, und sie trat auf die Veranda, um ein wenig frische Luft zu schnappen. Das helle Mondlicht lag in diffusem Schimmer auf Bürgersteig und Vorgärten, und mit einem kleinen Laut, der halb Lachen, halb Gähnen war, erinnerte sie sich an ihre Jugend als einer einzigen vom Mondlicht beschienenen Tändelei. Der Gedanke, dass das Leben einst die Summe ihrer Tändeleien gewesen war, erschien ihr erstaunlich. Jetzt war ihr Leben die Summe ihrer Probleme.
Da war das Problem mit Julie. Sie war jetzt dreizehn und wurde sich in letzter Zeit ihrer Entstellung immer mehr bewusst. Sie blieb stundenlang in ihrem Zimmer und las. Vor einigen Jahren hatte sie Angst vor dem Internat gehabt, und Evylyn hatte es nicht über sich gebracht, sie dorthin zu schicken. So wuchs sie nun im Schatten ihrer Mutter auf – ein bemitleidenswertes Mädchen mit einer Handprothese, die sie nicht gebrauchte, sondern traurig in ihrer Tasche versteckte. Seit kurzem wurde sie im Gebrauch der Prothese unterwiesen, denn Evylyn fürchtete, sie würde den Arm sonst gar nicht mehr benutzen, doch nach den Unterrichtsstunden verschwand die Hand wieder in der Tasche ihres Kleides und kam nur zum Vorschein, wenn Julie sie in gleichgültigem Gehorsam gegenüber den Ermahnungen ihrer Mutter hervorholte. Eine Zeitlang hatte sie nur Kleider ohne Taschen bekommen, doch da war Julie einen ganzen Monat lang so unglücklich im Haus herumgeschlichen, dass Evylyn sich schließlich erbarmt und das Experiment abgebrochen hatte.
Das Problem mit Donald war von Anfang an ganz anders geartet. Evylyns Versuche, ihn in ihrer Nähe zu behalten, waren ebenso gescheitert wie ihre Bemühungen, Julie mehr Selbständigkeit zu vermitteln. Und vor kurzem war ihr das
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