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Winterträume

Winterträume

Titel: Winterträume Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: F. Scott Fitzgerald
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dessen Gesicht sie längst vergessen hatte. Massig und brütend, lauerte es seit Jahren im Mittelpunkt ihres Hauses und sandte wie aus tausend Augen eiskalte Strahlen aus, heimtückische, miteinander verschmelzende Lichtreflexe, die sich nicht veränderten und nicht alterten.
    Evylyn setzte sich auf den Rand des Tischs und starrte fasziniert die Schüssel an, die jetzt zu lächeln schien – ein sehr grausames Lächeln –, als wollte sie sagen: »Sieh nur, auch dieses Mal habe ich dich nicht direkt verletzt. Das war gar nicht nötig. Du weißt, dass ich es war, die dir deinen Sohn genommen hat. Du weißt, wie kalt und hart und schön ich bin, denn du warst einst ebenso kalt und hart und schön.«
    Die Schüssel schien sich plötzlich umzudrehen und dann größer zu werden und anzuschwellen, bis sie wie ein großes, gewölbtes Dach war, das glitzernd und bebend über dem Raum, über dem Haus hing, und als die Wände sich in einem Nebel aufzulösen schienen, sah Evylyn, dass die Kristallkuppel sich immer noch ausdehnte und allmählich nicht nur den fernen Horizont, sondern auch Sonnen, Monde und Sterne auslöschte, so dass sie nur noch als undeutliche helle Flecken zu sehen waren. Und unter dieser Kuppel bewegten sich die Menschen, und das Licht, das zu ihnen durchdrang, war vielfach gebrochen und umgelenkt, so dass der Schatten wie Licht war und das Licht wie Schatten – bis schließlich die ganze sichtbare Welt unter dem glitzernden Himmel der Schüssel verändert und entstellt war.
    Und dann hörte sie eine entfernte, dröhnende Stimme wie einen dunklen, klaren Glockenklang. Sie kam aus der Mitte der Schüssel, prallte an den gewaltigen Wänden ab und sprang Evylyn an.
    »Sieh nur«, rief sie, »ich bin das Schicksal, mächtiger als deine armseligen Pläne. Ich bin das, was aus diesen Plänen wird, und ich bin anders als deine kleinen Träume. Ich bin der Lauf der Zeit und das Ende der Schönheit und des unerfüllten Verlangens, und mir gehören all die Zufälle und Bagatellen und die kurzen Minuten, aus denen die entscheidenden Stunden entstehen. Ich bin die Ausnahme, die keine Regel bestätigt. Ich bin die Grenze dessen, was du bestimmen kannst. Ich bin die Würze des Lebens.«
    Das dröhnende Geräusch hatte aufgehört; die Echos hallten zurück zu den Wänden der Schüssel, die die Welt begrenzten, von dort empor und zum Mittelpunkt, wo sie noch einen Augenblick summten und dann erstarben. Dann senkten sich die gewaltigen Wände langsam auf Evylyn herab, rückten näher und näher, als wollten sie sie erdrücken, und während sie die Hände ineinanderkrampfte und auf den heftigen Aufprall des kalten Glases wartete, drehte sich die Schüssel mit einem plötzlichen Ruck wieder um, stand funkelnd und unergründlich auf der Anrichte und sandte aus hundert Prismen unzählige vielfarbige, glitzernde, gleißende, einander kreuzende und überlagernde Lichtstrahlen aus.
    Wieder wehte ein kalter Wind durch die offene Haustür. Mit verzweifelter Kraft legte Evylyn die Arme um die Schüssel. Sie musste schnell handeln, sie musste stark sein. Sie spannte die Arme an, bis sie schmerzten, sie straffte die dünnen Muskeln unter der weichen Haut, und mit großer Mühe gelang es ihr, die Schüssel anzuheben und zu halten. Sie spürte den kalten Wind auf dem Rücken, wo das Kleid infolge der Anstrengung aufgeplatzt war, und sie wandte sich um und taumelte unter ihrer Last durch die Bibliothek und zur Haustür. Sie musste schnell handeln, sie musste stark sein. Das Blut pochte dumpf in ihren Armen, und ihre Knie wollten immer wieder einknicken, aber die Kühle des Glases fühlte sich gut an.
    Sie wankte durch die Tür zu den steinernen Stufen der Eingangstreppe, und dort nahm sie alle Kraft ihres Körpers und ihrer Seele zusammen und schwang sich in einer letzten Anstrengung halb herum. Sie wollte loslassen, doch ihre Hände lösten sich nicht von der rauhen Oberfläche der Schüssel, und sie rutschte aus, verlor das Gleichgewicht und stürzte, noch immer die Schüssel umklammernd, mit einem verzweifelten Schrei die Treppe hinunter…
    Gegenüber wurde Licht gemacht; das Klirren war noch am Ende des Blocks zu vernehmen, und Leute eilten verwundert herbei. Im ersten Stock schrak ein müder Mann hoch, der eben noch im Begriff gewesen war, in den Schlaf zu gleiten, und ein Mädchen wimmerte in einem von schlechten Träumen heimgesuchten Halbschlummer. Und rings um die reglose schwarze Gestalt auf dem mondbeschienenen Bürgersteig

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