Winterträume
Problem Donald ohnehin aus den Händen genommen worden: Vor drei Monaten hatte man seine Division nach Europa verlegt.
Sie gähnte abermals – das Leben war etwas für junge Leute. Was für eine glückliche Jugend sie doch gehabt hatte! Sie dachte an ihr Pony Bijou und an die Europareise zusammen mit ihrer Mutter, als sie achtzehn gewesen war…
»Sehr, sehr kompliziert«, sagte sie laut und ernst zum Mond. Sie ging wieder hinein und wollte gerade die Tür schließen, als sie ein Geräusch aus der Bibliothek hörte.
Es war Martha, die nicht mehr ganz junge Hausangestellte – sie hatten jetzt nur noch eine.
»Martha!«, sagte Evylyn überrascht.
Martha fuhr herum.
»Ach, ich dachte, Sie wären schon oben. Ich wollte nur –«
»Stimmt etwas nicht?«
Martha zögerte.
»Nein, ich…« Sie stand da und rang die Hände. »Ich suchte nur nach einem Brief, ich muss ihn irgendwo hingelegt haben, Mrs. Piper.«
»Nach einem Brief? An Sie?«, fragte Evylyn und schaltete das Licht an.
»Nein, er war an Sie. Er ist heut Nachmittag gekommen, mit der letzten Post. Der Briefträger hat ihn mir gegeben, und dann hat’s an der Hintertür geläutet. Ich hatte ihn in der Hand, also muss ich ihn hier irgendwo hingelegt haben. Ich dachte, ich seh mal nach.«
»Was für ein Brief war das? Von Mr. Donald?«
»Nein, es war eine Reklame oder eine Rechnung. Es war so ein langer, schmaler Umschlag, das weiß ich noch.«
Sie suchten das Musikzimmer ab, sahen auf Tabletts und auf dem Kaminsims nach und setzten die Suche in der Bibliothek fort, wo sie auf den Bücherreihen nach dem Brief tasteten. Martha hielt entmutigt inne.
»Wo könnte er denn sein? Ich bin in die Küche gegangen – vielleicht ist er im Esszimmer.« Mit neuer Hoffnung wollte sie ins Esszimmer gehen, als ein Keuchen sie herumfahren ließ. Evylyn ließ sich in einen Sessel fallen, zog die Brauen eng zusammen und zwinkerte heftig.
»Ist Ihnen nicht gut?«
Evylyn antwortete nicht sogleich. Sie saß ganz still da. Martha sah, dass ihre Brust sich rasch hob und senkte.
»Ist Ihnen nicht gut?«, wiederholte sie.
»Nein, es ist nichts«, sagte Evylyn langsam, »aber ich weiß jetzt, wo der Brief ist. Gehen Sie nur, Martha. Ich weiß, wo er ist.«
Verwundert ging Martha hinaus. Evylyn blieb sitzen – nur die Muskeln rings um ihre Augen bewegten sich, spannten und entspannten sich ein ums andere Mal. Sie wusste jetzt, wo der Brief war, sie wusste es so gut, als hätte sie ihn selbst dorthin gelegt. Und sie wusste instinktiv und ohne den Hauch eines Zweifels, was darin stand. Der Umschlag war lang und schmal wie der eines Reklamebriefs, doch in einer Ecke stand in Großbuchstaben »Kriegsministerium« und darunter, in kleineren Buchstaben, »Mitteilung«. Sie wusste, dass der Brief in der großen Schüssel lag, dass auf dem Umschlag ihr Name stand und dass er den Todesstoß für ihre Seele enthielt.
Auf unsicheren Beinen ging sie zum Esszimmer, tastete sich an den Bücherregalen und dem Türrahmen entlang. Sie fand den Schalter und machte Licht.
Da stand die Schüssel und brach das elektrische Licht in roten Vierecken mit schwarzen Rändern und gelben Vierecken mit blauen Rändern, funkelnd und gewichtig, grotesk und triumphierend unheilvoll. Evylyn machte einen Schritt und blieb wieder stehen – beim nächsten würde sie über den Rand der Schüssel sehen können. Noch ein Schritt, und sie würde etwas Weißes erblicken. Noch einer, und… Ihre Hände berührten die rauhe, kalte Oberfläche.
Im nächsten Augenblick riss sie das Kuvert auf, öffnete mit zittrigen Fingern den Brief und starrte ihn an, während das mit Schreibmaschine beschriebene Blatt zurückstarrte und ihr ins Gesicht schlug. Dann segelte es wie ein Vogel zu Boden. Das Haus, das eben noch gesirrt und gesummt hatte, war mit einem Mal ganz still. Ein Lufthauch strich durch die offene Haustür und brachte das Motorengeräusch eines vorbeifahrenden Wagens mit; von oben hörte Evylyn unbestimmte Geräusche, dann ein Knirschen von einem Rohr hinter dem Bücherregal: Harold hatte einen Wasserhahn zugedreht.
Es war, als ginge es in diesem Moment gar nicht um Donald – oder jedenfalls nur insofern, als der Tod ihres Sohnes einen weiteren Augenblick in dem erbitterten Kampf markierte, der nach langen, ereignislosen Zeiten des Abwartens immer wieder ganz plötzlich und heftig zwischen Evylyn und diesem kalten, heimtückischen, schönen Ding ausgefochten wurde, dem bösartigen Geschenk eines Mannes,
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