Winterträume
neue, sehr besorgte Stimme, und als sie sich umdrehte, sah sie Hilda, das zweite Dienstmädchen.
»Bitte, Mis’ Piper, ich glaub, Julies Hand hat sich irgendwie entzündet, weil sie is’ ganz geschwollen, und sie is ganz rot im Gesicht und stöhnt immer so –«
»Julie?«, fragte Evylyn scharf. Die Abendgesellschaft rückte plötzlich in die Ferne. Evylyn blickte sich nach Mrs. Ahearn um und ging zu ihr.
»Entschuldigen Sie mich bitte, Mrs. –« Der Name war ihr plötzlich entfallen, doch sie fuhr sogleich fort: »Meine kleine Tochter ist krank geworden. Ich bin gleich wieder da.« Sie drehte sich um, lief eilig die Treppe hinauf und nahm nur noch das verworrene Bild eines Raumes voller Rauchschwaden wahr sowie laute Stimmen, die sich gerade zu einem Streit zu steigern schienen.
Sie schaltete das Licht im Kinderzimmer an. Julie wälzte sich fiebrig hin und her und stieß seltsame kleine Klagelaute aus. Evylyn legte die Hand auf ihre Wangen – sie waren ganz heiß. Mit einem leisen Schreckensschrei tastete sie am Arm entlang unter die Decke, bis sie Julies Hand gefunden hatte. Hilda hatte recht: Der Daumen war bis zum Handgelenk angeschwollen, und in seiner Mitte war eine kleine entzündete Stelle. Blutvergiftung!, hallte es entsetzt in ihrem Kopf wider. Der Verband hatte sich gelöst, und irgendetwas war in die Wunde gekommen. Julie hatte sich um drei Uhr geschnitten – jetzt war es kurz vor elf. Acht Sunden. Eine Blutvergiftung konnte sich doch nicht so schnell entwickeln. Sie eilte zum Telefon.
Dr. Martin, der gegenüber wohnte, war nicht zu Hause. Bei Dr. Foulke, ihrem Hausarzt, meldete sich niemand. Sie zermarterte sich den Kopf und rief in ihrer Verzweiflung schließlich ihren Hals-Nasen-Ohren-Arzt an, während sie im Telefonbuch die Nummern zweier weiterer Ärzte heraussuchte. Die Zeit schien stillzustehen, und Evylyn glaubte, von unten laute Stimmen zu hören, doch sie befand sich im Augenblick in einer anderen Welt. Nach fünfzehn Minuten gelang es ihr, einen Arzt zu erreichen, der mürrisch und verärgert klang, weil man ihn aus dem Bett geholt hatte. Sie eilte zurück ins Kinderzimmer, musterte Julies Hand, die ihr schon etwas dicker schien.
»O Gott!«, rief sie, kniete neben dem Bett nieder und strich immer wieder über Julies Haar. Vielleicht sollte sie heißes Wasser holen, ging ihr durch den Kopf. Sie erhob sich und wollte zur Tür gehen, doch die Spitzenborte ihres Kleides hatte sich im Bettgestell verfangen, und sie stürzte auf Hände und Knie. Sie rappelte sich auf und zerrte verzweifelt an dem Stoff. Das Bett verschob sich, und Julie stöhnte auf. Ruhiger, aber mit zitternden Fingern tastete Evylyn nach der Borte und riss sie einfach ab. Dann stürzte sie hinaus.
Auf dem Treppenabsatz hörte sie von der Eingangshalle eine laute, drängende Stimme, die jedoch verstummte, als Evylyn die Treppe hinunterging. Die Haustür fiel geräuschvoll ins Schloss.
Im Musikzimmer waren nur noch Harold und Milton. Harold lehnte an einem Sessel. Er war sehr blass, sein Kragen stand offen, sein Mund bewegte sich.
»Was ist denn los?«
Milton sah sie bedrückt an.
»Es hat ein bisschen Ärger gegeben…«
Harold bemerkte sie. Er richtete sich mühsam auf und begann zu sprechen. »Beleidigt mein’ eigenen Cousin in mei’m eigenen Haus, verdammter neureicher Emporkömmling. Beleidigt mein’ eigenen Cousin…«
»Tom hat sich mit Ahearn gestritten, und Harold wollte vermitteln«, erklärte Milton.
»Herrgott, Milton«, rief Evylyn, »hättest du denn nicht eingreifen können?«
»Ich hab’s ja versucht, aber –«
»Julie ist krank«, unterbrach sie ihn. »Sie hat eine Blutvergiftung. Bring ihn zu Bett, wenn du kannst.«
Harold sah auf.
»Julie ist krank?«
Evylyn beachtete ihn nicht und ging an ihm vorbei ins Esszimmer. Sie zuckte vor Schreck zusammen, als sie die große Punschschüssel auf dem Tisch sah. Das restliche Eis war geschmolzen und bedeckte ihren Boden. Sie hörte Schritte auf der Treppe – Milton half Harold hinauf – und dann ein gemurmeltes: »Ach was, Julie geht’s prima.«
»Lass ihn nicht ins Kinderzimmer«, rief sie.
Die folgenden Stunden waren ein Alptraum. Der Arzt kam kurz vor Mitternacht und öffnete die Wunde mit einer Lanzette. Er ging um zwei Uhr morgens, nachdem er Evylyn die Telefonnummern zweier Krankenschwestern gegeben hatte, die sie anrufen sollte, und versprach, um sechs Uhr noch einmal zu kommen. Es war tatsächlich eine Blutvergiftung.
Um vier
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