Winterträume
immer nur ein Name und ein Datum, bisweilen kaum noch zu entziffern.
»Die letzte Reihe ist die traurigste – siehst du, da drüben. Da steht auf jedem Kreuz nichts als das Datum und das Wort ›Unbekannt‹.«
Sie sah ihn an; in ihren Augen standen Tränen.
»Liebster, ich kann dir gar nicht sagen, wie wirklich das hier alles für mich ist – wenn du’s nicht selber weißt.«
»Für mich ist schön, was du dabei empfindest.«
»Nein, nein, das bin nicht ich, sie sind es – die alten Zeiten sind es, die ich in mir wachzuhalten suche. Das da sind einfache Männer gewesen, unbedeutend offenbar, sonst wären sie ja wohl nicht ›unbekannt‹; aber sie starben für die schönste Sache auf der Welt – dead South, den tiefsten Süden. Weißt du«, fuhr sie mit noch immer heiserer Stimme fort, derweil in ihren Augen Tränen glitzerten, »die Menschen haben ihre Träume, die knüpfen sie an Dinge, und ich, ich bin nun einmal damit großgeworden – mit diesem Traum. Das war so einfach, weil ja alles tot war und ich nicht zu befürchten brauchte, irgendwie enttäuscht zu werden. Auf eine Art habe ich mich bemüht, nach diesen alten Regeln des Noblesse oblige zu leben – ein kleiner Rest davon ist ja noch da, so wie die letzten Rosen in einem alten Garten, die sterben rings um uns herum – Spuren einer fremd anmutenden Höflichkeit und Ritterlichkeit bei manchen von den Jungs und in Geschichten, die ich erzählt bekommen hab von einem ehemaligen Nachbarn, der als Soldat bei den Konföderierten war, und auch von ein paar alten Darkies. Ach, Harry, das war wirklich was ganz Eigenes, ja, was ganz Eigenes! Ich werde dir das nie verständlich machen können, aber es war etwas ganz Eigenes.«
»Ich verstehe doch«, versicherte er ihr abermals in leisem Ton.
Sally Carrol lächelte und wischte sich die Tränen mit dem Zipfel des aus seiner Brusttasche hervorschauenden Kavaliertüchleins ab.
»Lieber, du bist doch nicht bedrückt, nicht wahr? Auch wenn ich weine – ich bin glücklich hier, und irgendwie gibt es mir Kraft.«
Hand in Hand kehrten sie um und gingen langsam weiter. Als sie an eine Stelle kamen, wo weiches Gras war, zog sie ihn hinunter, und sie setzten sich hin und lehnten sich mit dem Rücken an ein eingefallenes Mäuerchen.
»Wenn doch die drei alten Weiber dort endlich verschwinden wollten«, maulte er. »Ich will dich nämlich küssen, Sally Carrol.«
»Und ich dich.«
Ungeduldig warteten sie, bis die drei kauernden Gestalten sich entfernt hatten, und dann küsste sie ihn, bis der Himmel zu verblassen schien und all ihr Lächeln und all ihre Tränen gleichsam in einem Taumel nimmer endender Sekunden sich verloren.
Dann gingen sie gemächlich miteinander heim, der Tag neigte sich seinem Ende zu, und an den Straßenecken malte schläfrig schon die Dämmerung ihre schwarzweißen Schachbrettmuster auf das Pflaster.
Er sagte: »Mitte Januar kommst du dann hoch, und du musst mindestens vier Wochen bleiben. Das wird ganz prima. Um die Zeit ist Winterkarneval, und wenn du noch nie echten Schnee gesehen hast, wirst du dir wie im Märchenland vorkommen. Da wird Schlittschuh gelaufen, Ski gefahren und gerodelt, da gibt es Schlittenfahrten und allerlei Fackelzüge auf Schneeschuhen. Die letzten Jahre gab es keinen Karneval, da wird es dieses Mal bestimmt hoch hergehen.«
»Und werd ich frieren müssen, Harry?«, fragte sie ihn unvermittelt.
»Ganz sicher nicht. Ein kaltes Näschen holst du dir vielleicht, aber vor Kälte bibbern wirst du keinesfalls. Es ist ja alles fest und trocken, weißt du.«
»Ich glaub, ich bin ein Sommerkind. Die Kälte, die ich bisher so erlebt hab, hat mir nicht gefallen.«
Dann war sie wieder still, und beide schwiegen einen Augenblick.
»Sally Carrol«, sprach er schließlich zögernd, »was sagst du denn zu – März?«
»Ich sag, ich lieb dich.«
»Also März?«
»Ja, Harry, März.«
III
Im Pullmanwaggon war es die ganze Nacht lang furchtbar kalt. Sie schellte nach dem Schaffner und bat um eine zweite Decke, und weil er ihr keine geben konnte, stopfte sie die, die sie hatte, an den Seiten unter die Matratze und nahm die Laken doppelt, doch ihre Hoffnung, auf diese Art noch ein paar Stunden Schlaf zu finden, war vergebens. Und dabei wollte sie am nächsten Morgen doch so schön sein wie nur irgend möglich.
Um sechs stand sie auf, schlüpfte unbeholfen in ihre Kleider und wankte in den Speisewagen, um eine Tasse Kaffee zu trinken. Der Schnee war durch die Türritzen
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