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Winterträume

Winterträume

Titel: Winterträume Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: F. Scott Fitzgerald
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auf den goldenen Septemberfeldern einem uralten Brauch nachhingen. Und rings um diese pittoreske Schläfrigkeit, über den Bäumen, den Schuppen, den schlammigen Flüssen, waberte die Hitze, nie feindselig, immer nur tröstlich, wie ein großer warmer Nährbusen für die kindliche Erde.
    »Sally Carrol, wir sind da!«
    »Die arme Kleine – eingepennt, die schläft ganz fest.«
    »He, Süße, biste schon gestooorm vor Langeweile?«
    »Wasser, Sally Carrol! Hier wartet kaltes Wasser auf dich!«
    Sie öffnete verschlafen die Augen.
    »Hallo!«, murmelte sie lächelnd.
    II
     
    Im November kam Harry Bellamy, groß, stark und voller Schwung, aus seiner Stadt im Norden für vier Tage herunter. Er hatte vor, eine Angelegenheit zu klären, die sich schon seit dem Sommer hinzog, seit er und Sally Carrol sich in Asheville, North Carolina, begegnet waren. Das Klären dauerte nur einen ruhigen Nachmittag und einen Abend am Kamin, denn Harry Bellamy hatte alles, was ihr fehlte; und außerdem liebte sie ihn – liebte ihn mit jener Seite ihres Wesens, die sie sich eigens für die Liebe hielt. Denn Sally Carrol hatte eine ganze Menge Seiten, und jede diente einem ganz bestimmten Zweck.
    An seinem letzten Nachmittag, sie gingen gerade spazieren, merkte Sally Carrol plötzlich, wie ihre Schritte sie fast unwillkürlich zu einem ihrer Lieblingsorte führten – zum Friedhof. Als er in Sicht kam, grau-weiß und gold-grün im heiteren Schein der späten Sonne, blieb sie unentschlossen vor der schmiedeeisernen Pforte stehen.
    »Du, Harry, neigst du eigentlich zur Schwermut?«, fragte sie mit einem zarten Lächeln.
    »Schwermut? Ich doch nicht.«
    »Dann lass uns hier hineingehen. Manch einen drückt’s ja nieder, aber ich bin gerne hier.«
    Sie traten durch die Pforte und folgten dem Pfad durch ein wogendes Tal von Gräbern – erdgrau und modrig die aus den Fünfzigern, idyllisch die aus den Siebzigern mit ihren in Stein gehauenen Pflanzen und Amphoren; abscheulich überladen die der Neunziger mit ihren dicken, trunken auf steinernen Kissen schlummernden Marmoramoretten und riesengroß wuchernden, namenlosen granitenen Blumen. Bisweilen sahen sie eine kniende Gestalt mit einem Trauerstrauß, doch auf den meisten Gräbern lag Stille, Stille und welkes Laub, dessen würziger Duft allein in den Seelen der Lebenden dunkle Erinnerungen zu wecken vermag.
    Dann stiegen sie auf einen Hügel, wo sie vor einem hohen, runden Grabstein stehen blieben, der halb von Efeu überwuchert war und übersät mit Schimmelflecken.
    »Margery Lee«, las sie; »1844–1873. War sie nicht hübsch? Sie starb mit neunundzwanzig Jahren. Die liebe Margery Lee«, sagte sie leise. »Siehst du sie vor dir, Harry?«
    »Ja, Sally Carrol.«
    Er spürte, wie sich eine kleine Hand in seine schob.
    »Ich glaube, sie war dunkel, und sie hat stets ein Band im Haar getragen, und herrliche Reifröcke in Alice-Blau und Altrosa.«
    »Ja.«
    »Ach, Harry, sie war ja so lieb! Und sie war eins von diesen Mädchen, die geradezu dafür geschaffen sind, auf einer großen Säulenveranda zu stehen und die Gäste hereinzubitten. Ich denk mir, eine Menge Männer, die in den Krieg gezogen sind, haben im Sinn gehabt, zu ihr zurückzukehren, aber vielleicht hat’s keiner je getan.«
    Er trat näher an den Stein heran und beugte sich vor, um zu schauen, ob irgendwo ein Hinweis auf eine Heirat zu finden war.
    »Hier steht nichts weiter.«
    »Natürlich nicht. Wie könnte es auch etwas Besseres geben als einfach ›Margery Lee‹ und diese vielsagenden Jahreszahlen?«
    Sie kam ganz nah an ihn heran, und als sie seine Wange streifte mit ihrem blonden Haar, da schnürte ihm auf einmal, völlig unerwartet, etwas die Kehle zu.
    »Nicht wahr, Harry, du siehst doch, wie sie gewesen ist?«
    »Ich sehe es«, gab er ihr zärtlich recht. »Ich sehe es durch deine teuren Augen. Du bist so schön, und darum weiß ich, dass sie es auch gewesen ist.«
    Schweigend standen sie beieinander, und er spürte, dass ihre Schultern leise bebten. Eine sanfte Brise strich über den Hügel und zupfte an der breiten Krempe ihres Hutes.
    »Komm, wir gehen da hinunter!«
    Sie zeigte auf einen ebenen Streifen auf der anderen Seite des Hügels, wo entlang des grünen Rasens in endlosen, schnurgeraden Reihen tausend gräulich-weiße Kreuze standen, wie die präsentierten Gewehre eines Bataillons.
    »Das sind die Toten der Konföderierten«, sagte Sally Carrol schlicht.
    Sie gingen daran vorbei und lasen die Inschriften,

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