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Winterträume

Winterträume

Titel: Winterträume Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: F. Scott Fitzgerald
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hindurch auf die Plattformen geweht und bedeckte den Boden als rutschiger Matsch. Die Kälte war wirklich gemein, sie kroch durch alles hindurch. Sally Carrol entdeckte, dass sie ihren Atem sehen konnte, und hauchte mit naiver Freude in die Luft. Als sie im Speisewagen saß und aus dem Fenster schaute, sah sie die Berge und die Täler vorüberziehen – alles weiß – und hier und da vereinzelt eine Tanne mit Zweigen, die aussahen wie grüne Platten für ein kaltes Schneebankett. Bisweilen huschte ein einsames Gehöft vorbei, das hässlich, trostlos und verlassen in der weißen Ödnis stand, und jedes Mal empfand sie dann fröstelndes Mitleid mit den Menschenseelen, die darin eingeschlossen waren und auf den Frühling warteten.
    Auf dem schwankenden Rückweg vom Speisewagen in den Pullmanwaggon durchströmte sie auf einmal ein Schwall von Energie, und sie fragte sich, ob das etwa die erfrischende Wirkung der Luft sei, von der Harry gesprochen hatte. Dies hier, das war der Norden, der Norden – ihre neue Heimat!
»Then blow, ye winds, heigho!
A-roving I will go«
    sang sie vor Freude leise vor sich hin.
    »Wie meinen?«, fragte der Schaffner höflich.
    »Ich sagte: ›Bürsten Sie mich bitte ab.‹«
    Die langen Drähte an den Telegrafenmasten verdoppelten sich; neben dem Zug liefen zwei Gleise her – drei – vier; dann eine Reihe Häuser, allesamt mit weißen Dächern, ein rascher Blick auf eine Straßenbahn mit zugefrorenen Fensterscheiben, Straßen – noch mehr Straßen – die Stadt.
    Einen Moment lang stand sie wie benommen auf dem eisigen Bahnsteig, doch dann sah sie die drei dick in Pelze eingemummelten Gestalten auf sich zukommen.
    »Da ist sie ja!«
    »Ah, Sally Carrol!«
    Sally Carrol ließ die Reisetasche fallen.
    »He, du!«
    Ein eiskaltes, ihr nur noch mäßig vertrautes Gesicht gab ihr einen Kuss, und dann war sie umringt von Gesichtern, die aussahen, als stießen sie in einem fort dicke Wolken von schwerem Rauch aus; sie schüttelte Hände. Ein gewisser Gordon war da, ein ungeduldiger kleiner Mann von dreißig Jahren, der ihr wie das laienhaft gemachte, leicht ramponierte Ebenbild von Harry vorkam, dann Myra, seine Frau, eine etwas flaue Dame mit flachsblondem Haar, das unter einer Automobilistenkappe aus Pelz verborgen war. Für Sally Carrol stand fast augenblicklich fest, dass Myra mehr so in die skandinavische Richtung ging. Ein fröhlicher Chauffeur nahm sich ihrer Reisetasche an, halbe Sätze, laute Rufe flogen hin und her, bisweilen mischte sich mechanisch Myra mit einem flauen »meine Liebe« ein, und so verließen sie beschwingt den Bahnhof.
    Dann saßen sie in einer Limousine, die auf dem Weg zu Harrys Heim durch zahllose verwinkelte und tief verschneite Straßen fuhr, in denen Dutzende von kleinen Jungen mit ihren Schlitten hinten an den Fuhrwerken und Autos hingen und sich ziehen ließen.
    »Oh, das will ich auch!«, rief Sally Carrol. »Darf ich, Harry?«
    »Das ist was für kleine Kinder. Aber wir könnten –«
    »Schade, das macht bestimmt ganz riesig Spaß«, sagte sie traurig.
    Harrys Heim war ein weitläufiges Holzhaus an einem weißverschneiten Hang; dort traf sie einen großen, kräftigen Mann mit grauen Haaren, der ihr gut gefiel, und eine Frau, die einem Ei glich und sie küsste – Harrys Eltern. Es folgte eine atemlose halbe Stunde, unmöglich zu beschreiben, vollgestopft mit halben Sätzen, heißem Wasser, Eiern mit Schinken und Konfusion, und dann war sie allein mit Harry in der Bibliothek und fragte ihn, ob sie wohl rauchen dürfe.
    Die Bibliothek war ein großer Raum mit einer Madonna auf dem Kaminsims und reihenweise Büchern mit teils goldgelben, teils goldbraunen, teils leuchtend roten Einbänden. Die Sessel hatten alle oben, wo man den Kopf anlehnen soll, ein viereckiges Spitzendeckchen, die Couch war rechtschaffen bequem, die Bücher – manche jedenfalls – sahen gelesen aus, und plötzlich fühlte Sally Carrol sich zurückversetzt in die schäbige alte Bibliothek daheim in Tarleton mit den dicken medizinischen Fachbüchern ihres Vaters und den in Öl gemalten Konterfeis ihrer drei Großonkel und der alten Couch, die schon seit fünfundvierzig Jahren ein ums andere Mal geflickt wurde und auf der es sich trotzdem immer noch so herrlich träumen ließ. An diesem Raum hier aber, in dem sie gerade stand, fand sie nichts reizvoll oder irgendwie besonders. Es war einfach ein Raum mit einer Menge ziemlich teurer Dinge darin, von denen offensichtlich keines älter war

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