Winterwelt (Sommer-Sonderpreis bis zum 06.08.2012!) (Winterwelt Trilogie) (German Edition)
mehr als die blau-grauen Augen teilten sie Arrows Ansicht nach nicht. Hier und da bemerkten die Leute oft Dinge wie „das gleiche Lächeln“ oder „die gleiche Nase“, doch vielleicht sagten sie es auch nur, um irgendein Gespräch zu beginnen. Und es war schön, wenn über ihn geredet wurde. So hatte Arrow stets das Gefühl, ihrem Vater ganz nah zu sein.
Nachdem Arrow eine ganze Weile vor der Tür verharrt hatte, atmete sie tief ein und schlich auf Zehenspitzen aus ihrem Zimmer. Zwar hatte sie nichts angestellt, doch trotzdem fühlte sie sich nicht wohl in ihrer Haut – oder vielmehr in ihrem Kleid. Alles kam ihr so vor, als wäre etwas Ungewöhnliches geschehen. Etwas, das sie früher oder später beichten müsste, und als sie die vielen Stimmen im Erdgeschoss vernahm, zuckte sie zusammen, denn das würde wohl eher früher als später geschehen – viel zu früh.
Am oberen Ende der Treppe presste Arrow ihren Rücken gegen die Wand. Vorsichtig wollte sie einen Blick nach unten werfen, um sich ein Bild davon zu machen, was sie erwarten würde. Wäre sie den Gästen zuvor gekommen, hätte es sie weniger Überwindung gekostet, denn dann hätte sie sich nur schön nacheinander den Blicken Einzelner stellen müssen. Inzwischen allerdings wartete eine gierige Meute im Erdgeschoss, die danach lechzte, Arrow einmal vor Scham im Boden versinken zu sehen. Nicht, dass es keine guten Menschen waren. Die Familie verband mit jedem von ihnen eine starke freundschaftliche Beziehung. Alles andere wäre geheuchelt und in ihrem Hause absolut unerwünscht gewesen. Aber trotz aller Freundschaft waren die Gäste vor allem auch Nachbarn. Elm Tree war ja nur ein Dorf und die Verwandlung einer unbändigen Teenagerin in eine junge Lady in einer einzigen Nacht – oder vielmehr an einem einzigen Abend – das war für die Leute ein gefundenes Fressen. Aber so oder so kostete es immer sehr viel mehr Überwindung, sich bereits vertrauten Menschen stellen zu müssen als völlig Fremden.
Arrow konnte erkennen, dass wenigstens die Hälfte der Gäste inzwischen eingetroffen waren. Trotzdem waren es eindeutig zu viele.
Ihre engsten Freunde Linda, Lizzy, Adam und Robert waren noch nicht anwesend, was in dieser Situation noch weniger beruhigend wirkte. Die Vier waren immer da, um Arrow den Rücken zu stärken, doch dieses Mal musste sie da offenbar allein durch.
Arrow schloss die Augen und begann tief ein- und auszuatmen. Sie hoffte, dass es ihre Aufregung mindern und plötzlich der richtige Moment kommen würde – der Moment, in dem sie bereit war. Der passende Augenblick ließ allerdings auf sich warten und so lehnte sie weiter an der Wand.
„Arrow?“, fragte eine vertraute Stimme.
Erschrocken drehte sie sich um. Offenbar war sie nicht die Einzige, die zur eigenen Feier zu spät kam.
„Dad ... Ich ...“
Arrow schämte sich zu sehr, um ihm in die Augen sehen zu können. Noch bevor sie wusste, was sie sagen sollte, kam er ihr zuvor.
„Du bist wunderschön“, sagte Melchior mit leuchtenden Augen.
Arrow lächelte wenig überzeugt. „Findest du?“, fragte sie eingeschüchtert. „Ich dachte, es wäre ein bisschen viel ...“
„Wunderschön“, wiederholte er betonend.
„Aber Dad“, stammelte Arrow, „das bin nicht ich. Die Leute werden mich die ganze Zeit anstarren und ... und sie werden erwarten, dass ich mich so benehme, wie ich aussehe.“
Melchior runzelte die Stirn. „Wie siehst du denn aus?“, fragte er.
Arrow fuchtelte die ganze Zeit mit ihren Händen und schaute ständig umher, um sich zu vergewissern, dass niemand in der Nähe war. Beinahe hatte sie das Gefühl zu hyperventilieren.
Ganz vorsichtig beugte sie sich ihrem Vater entgegen und antwortete im Flüsterton: „So erwachsen und ... vornehm.“
Melchior lachte, dann nahm er ihre Hände und schaute glücklich in ihre Augen. „Mein Kind, die Leute beobachten dich schon seit Jahren aus genau diesen eben genannten Gründen. Ich habe dich so oft allein gelassen, dass du viel schneller erwachsen geworden bist als all deine Freunde. Und auch wenn man es deinem Äußeren nicht ansieht – du bist schon immer vornehm gewesen. Du bildest dich selbstständig weiter, pflegst Kontakte, bist stets freundlich und für die Menschen da, wann immer du kannst. Nicht die Kleider lassen uns vornehm sein, sondern das, was in ihnen steckt. Ich bin sehr stolz auf dich. Es ist immer interessant, wie sich ein junger Mensch entwickelt, ganz besonders in deinem Fall. Unsere Art zu
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