Wintzenried: Roman (German Edition)
habe Ihre Harmonielehre studiert, nicht nur einmal, immer wieder, über Jahre hinweg, ich verehre Sie, verbeugt sich Jean-Jacques vor Rameau und beeilt sich hinzuzufügen: Sie werden in meiner Schrift drei Mal erwähnt!
Rameau schaut ihn nicht an und sagt nur: Geben Sie mir.
Vergeblich versucht Jean-Jacques sein Zittern in den Griff zu bekommen, als er ihm sein Werk reicht. Er stiert in Rameaus Gesicht und hofft, in seinen Augen gleich ein Leuchten wahrzunehmen. Rameau tritt ein paar Schritte zurück, Jean-Jacques geht ihm hinterher. Rameau tritt wieder ein paar Schritte zurück, Jean-Jacques geht ihm nochmals hinterher. Am Ende sind sie wieder dort, wo sie zu Anfang standen. In Rameaus Gesicht tut sich nichts. Ohne jede Regung überfliegt er hier und da einen Abschnitt. Jean-Jacques könnte jauchzen, obwohl ihm gleichzeitig auch ganz anders zumute ist. Sein leises Zittern hat aufgehört. Er empfindet so etwas wie Zuversicht, auch wenn aus Rameaus Gesicht immer noch nicht das Geringste herauszulesen ist. Trotz seiner Strenge gefällt Jean-Jacques dieses Gesicht. Wer Rameau zum Freund hat, hat gewonnen, sagt er sich. Und es gefällt ihm, wie gleichbleibend konzentriert dieser Mann bleibt. Jemand, der sich ganz auf die Sache einlässt. Der ganz gebannt zu sein scheint. Was auch kein Wunder ist, bei einem so gewaltigen Schritt in eine ganz neue Zukunft der Musik. Wahrscheinlich, sagt Jean-Jacques sich, kann er es noch gar nicht fassen und fragt sich, warum nicht längst ein anderer auf diese Idee gekommen ist.
Was, fragt Rameau auf einmal, soll daran eine Vereinfachung sein? Wer in Ihrem System durchsteigen will, sagt er, ohne aufzublicken, muss vorher Mathematik studiert haben und als Musiker unendlich viel Zeit zum Rechnen einplanen, bevor er dazu kommt, auch nur eine einzige Note zu spielen.
Es geht alles viel schneller, ruft Jean-Jacques.
Bei Noten, redet Rameau einfach weiter, sieht man sofort auf den ersten Blick, um welche Töne es sich handelt und wie sie miteinander zusammenhängen. Bis mir bei Ihnen klar wird, dass es sich um ein schlichtes C-Dur handelt, ist der Abend gelaufen.
Es ist viel einfacher!, ruft Jean-Jacques.
Rameau verabschiedet sich nicht einmal.
Auch Rameau ist also ein Idiot, denkt Jean-Jacques zuerst, erkennt dann jedoch sehr schnell den wahren Grund einer solchen Unduldsamkeit. Schließlich ist Rameau kein Dummkopf. Er ist nur eifersüchtig. Maßlos eifersüchtig. Er gönnt ihm seine Entdeckung nicht. Will nicht, dass Jean-Jacques’ Name bald heller leuchtet als der seine. Längst hat Rameau seinen Zenit überschritten. Ist voller Angst und Furcht, dass schon bald kein Mensch mehr seinen Namen kennt. Nicht einmal in Frankreich. Je länger Jean-Jacques darüber nachdenkt, desto klarer wird ihm, dass Rameau ihn vernichten will. Ein Mann, dem die Herrschsucht ins Gesicht geschrieben steht.
Bevor er wieder in der Lage ist, Madame Dupin als Sekretär zu dienen, muss Jean-Jacques sich eine Woche lang ins Bett legen. Dem Stechen nach zu schließen, das in der linken Brust gar nicht mehr aufhören will, hat sich wieder ein Polyp in sein Herz hineingefressen.
IV
M usik ist nicht alles, sagt sich Jean-Jacques. Als Madame Dupin ihm erzählt, dass der französische Botschafter in Venedig einen neuen Sekretär sucht, erinnert er sich, dass man ihm einst in Turin eine große Laufbahn als Diplomat vorausgesagt hat. Vorbei die Zeiten, da man sich vor senilen Akademiemitgliedern erniedrigen, von einem neidischen Musikanten vor die Tür setzen lassen und im immer gleichen Café mit trostlosen Gestalten herumsitzen muss. Vorbei auch das Lakaien-Dasein bei Madame Dupin, die sich einbildet, Schriftstellerin zu sein. Doch er will nichts Böses über sie sagen. In ihren Salon hat sie ihn zwar nie eingeladen, doch ihrem Empfehlungsschreiben an den Botschafter ist es zu verdanken, dass sein Leben jetzt erst richtig anfängt.
Weil man seine Ankunft in Venedig kaum erwarten kann, besteigt Jean-Jacques gleich die nächste Kutsche nach Marseille, von wo es mit dem Schiff zuerst nach Genua und von dort wieder mit der Kutsche nach Venedig gehen soll. Gern würde er auf dem Weg in den Süden einen Abstecher zu Mama machen, doch weil dafür nicht die geringste Zeit bleibt, schickt er ihr von unterwegs einen Brief. Meine arme Mama, schreibt er, ich bin in diplomatischen Diensten zwischen Paris und Rom unterwegs, und für einen Besuch bei Dir bleibt mir leider keine Zeit. Am liebsten würde er hinzufügen: Du
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