Wintzenried: Roman (German Edition)
diktiert. Es soll ein auf zehn Bände angelegter Roman werden. Jean-Jacques weiß, dass ihn nie jemand lesen wird.
Ihren Salon hat er auch nach Wochen noch nicht betreten. Allerdings kennt Madame das hochberühmte Akademiemitglied Réaumur, dem die Welt ein Thermometer zu verdanken hat, mit dem sich sogar Fieber messen lässt. Und sie sorgt dafür, dass Monsieur Réaumur ihm die Möglichkeit gibt, bei der nächsten Akademiesitzung sein neues Notensystem vorzustellen.
Besser hätte es nicht kommen können. Mehr kann man für jemanden nicht tun. Madame Dupin leiht Jean-Jacques sogar von ihrem Gatten einen Rock, einen Stock und eine gepuderte Perücke aus.
Tatsächlich sind die illustren Herren an seiner Erfindung zutiefst interessiert, haken nach, fangen mit ihm zu diskutieren und zu disputieren an, betonen, wie schön sie es finden, dass er sich um den Fortschritt der Künste verdient machen will, wollen aber auch immer von neuem wissen, was an dieser Methode eigentlich einfacher sein soll. Jean-Jacques versucht ständig, es von vorn zu erklären, doch es will ihnen beim besten Willen nicht einleuchten. Einige der Herren verweisen auf einen Mönch, der das alles schon vor hundert Jahren vorgeschlagen hat. Solche Vorschläge, behaupten sie, gebe es immer wieder, als praktikabel habe sich noch kein einziger erwiesen.
Sie wollen einfach nicht begreifen, denkt Jean-Jacques, dass es in seinem neuen System keine komplizierten Notenschlüssel mehr gibt und man deshalb auch nichts mehr transponieren muss.
Was denn am bisherigen System so kompliziert sei, will Réaumur wissen.
Alles, antwortet Jean-Jacques.
Ich verstehe das nicht, schüttelt Réaumur den Kopf.
Ich auch nicht, sagt Jean-Jacques.
Er verstehe nicht, was daran nicht zu verstehen sei, präzisiert Réaumur.
Alles, sagt Jean-Jacques noch einmal und geht zum Angriff über: Ich habe, sehr verehrte Herren, den Eindruck, dass Sie sich allein deshalb am Alten festkrallen, weil Sie das Alte kennen.
Die Herren wünschen ihm auf seinen weiteren Wegen Gottes Hilfe, bedanken sich für seine Mühe und verabschieden ihn mit der allergrößten Höflichkeit.
Vollidioten, die von Musik keine Ahnung haben!, tobt er im Café. Was will schon einer, der einen Fiebermesser erfindet, von Noten verstehen?, schreit Jean-Jacques an diesem Tag noch tausendmal über die Tische. Es sei zum Lachen. Eine Greisenversammlung. Sture alte Esel.
Diderot zuckt mit den Schultern und nickt hin und wieder.
Es sei der größte Fehler seines Lebens gewesen, zu diesen Kretins zu gehen. Madame Dupin habe ihn nur vorführen wollen, es sei reine Rache gewesen, ihn zu diesen Halbtoten zu schicken.
Diderot versteht nicht ganz, was Jean-Jacques mit Rache meint, ist aber der Meinung, dass jetzt nur noch eine Veröffentlichung helfen kann, die man dann als Erstes Rameau zukommen lassen muss. Der Schachweltmeister soll ihn angeblich kennen. Flüchtig zwar nur, aber immerhin.
Im Café sieht man Jean-Jacques in den nächsten Wochen nicht mehr. Tag und Nacht feilt er an seiner Abhandlung, damit auch noch der Dümmste einsehen muss, wie schlagend sein neues System ist und alles Bisherige einem reinen Wirrwarr gleicht. Im Vorwort zeigt er Verständnis dafür, dass man bislang noch nicht so weit war, und fängt bei den alten Griechen an, um zu zeigen, welche umständlichen Wege die Musikgeschichte nehmen musste, bis es endlich möglich wurde, beim Einfachsten und Einleuchtendsten anzugelangen. Ich bin mir wie kein anderer dessen bewusst, erklärt er, dass fast nur Vorurteile über das Schicksal großer Entdeckungen entscheiden. Heutzutage wüte man gegen alles Neue und kralle sich derart eisern am Alten fest, dass es kaum möglich sei, sich mit ungewöhnlichen Ideen überhaupt noch Gehör zu verschaffen, ohne schon vorher verteufelt zu werden. Tausend Widerstände müsse man überwinden und gegen ein Heer von Gegnern anrennen, die sich hinter ihrer geistigen Starre verbarrikadieren, erbittert das Licht der Vernunft bekämpfen und sich gegen jede nur erdenkliche Veränderung in der Welt zur Wehr setzen.
Die Abhandlung wird gedruckt, und Philidor, der mit Jean-Jacques nach wie vor nicht Schach spielen will, erreicht tatsächlich, dass Rameau sich ein paar Minuten Zeit für ihn nehmen will. Immerhin, denkt Jean-Jacques, besitzt eine veröffentlichte Schrift gleich mehr Gewicht. Etwas Gedrucktes ist nicht mehr aus der Welt zu schaffen. Mit etwas Gedrucktem in der Hand tritt man gleich ganz anders auf.
Ich
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