Wintzenried: Roman (German Edition)
sitzt er auf einem französischen Handelsschiff mit der Kapitänsmannschaft zu Tisch. Während des kleinen Banketts legt eine Gondel an, aus der eine engelgleiche Schönheit steigt, die an Bord wie eine alte Bekannte begrüßt wird. Dass Zulietta die berühmteste Kurtisane von ganz Venedig ist, wissen hier offensichtlich alle außer Jean-Jacques. Mit Montaigus Vorgänger, flüstert man ihm zu, habe sie ein Verhältnis gehabt, und von Casanova gebe es sogar ein Gedicht auf sie. Jean-Jacques bringt kein Wort mehr hervor und schämt sich, weil alle sehen können, wie ihm Hitze in den Kopf steigt. Ihr leicht lispelnder Akzent gibt zu erkennen, dass sie keine reine Italienerin ist. Was sie nur umso aufreizender macht, so sehr, dass Jean-Jacques gar nicht mehr hinzuschauen wagt, wenn sie etwas sagt.
Mit zwei, drei Sprüngen ist sie bei ihm, fällt ihm um den Hals, behauptet, er sehe wie einer ihrer früheren Liebhaber aus, will wissen, wie er heißt und wer er ist, streichelt mit der einen Hand um seinen Mund, gleitet mit der andern in seinen Schritt, vollkommen schamlos vor der ganzen Mannschaft, die auf sie anstößt, ein Lied mit amore , dolore und cuore zu singen anfängt und zuschaut, wie sie ihn an die Hand nimmt und hinter sich herzerrt.
In einer Kajüte zieht sie sich, ganz langsam, Finger für Finger, ihre Handschuhe herunter, reicht sie ihm, dazu noch ihren Fächer, ihren Hut und ihren Gürtel, ohne ihn einen einzigen Augenblick aus den Augen zu lassen. Jean-Jacques steht da und scheint sich an ihren Sachen festzuhalten. Sie schaut ihn an, als wäre es jetzt an ihm, weiterzumachen. Jean-Jacques weiß nicht, was er sagen, was er tun und was er nicht tun soll. Weil er aber keine endlose Weile nur stumm und steif herumstehen kann, fragt er sie, ob es morgen möglich ist.
Am nächsten Tag empfängt sie ihn in einem durchsichtigen Seidenhemd, das ihre Brust kaum bedeckt und bloß an zwei dünnen Bändchen über ihren Schultern hängt. Noch nie hat er so etwas gesehen und noch nie eine Frau so gierig und gleichzeitig so unbeholfen umschlungen. Doch in der Hast der Liebkosungen und Küsse fängt er plötzlich an zu fürchten, es könnte alles viel zu schnell gehen und für ihn bereits vorbei sein, bevor es richtig angefangen hat. Von jetzt auf gleich geht bei ihm nichts mehr, und es ist so offensichtlich, dass er es nicht einmal überspielen und mit Liebkosungen von seinem Versagen ablenken kann. In der größten Hitze spürt er auf einmal eine Kälte in sich, die ihn so heftig frösteln und zittern lässt, dass er wie ein Kind zu weinen anfängt. Dieses Wesen ist zu vollkommen, denkt er, viel zu vollkommen, das Herrlichste, was die Schöpfung hervorbringen konnte, dabei aber nur eine elende Dirne, die schon Dutzende vor mir um den Verstand gebracht hat. Sie kennt mich überhaupt nicht, nicht mein Herz, nicht meine Talente, sie sieht in mir nur das, was sie in allen sieht, ein brünstiges Tier, das hechelt und keucht. Vielleicht ist sie krank und ich stecke mich bei ihr an, sagt er sich, oder ich selbst bin sogar der Kranke, der dieses Wunder an Schönheit zerstören könnte. Zulietta streichelt ihm übers Haar. Seine Gedanken, hofft er, kann sie nicht erraten. Schlimm genug, dass er so jämmerlich vor ihr versagt.
Wie zum Glück meint er auf einmal zu entdecken, dass ihre linke Brust überhaupt keine Warze besitzt. Wodurch er sich wie befreit von ihr fühlt. Während ihre Schönheit auf den ersten Blick vollkommen erscheint, muss er nun erkennen, dass sie einen scheinbar zwar nur kleinen, in Wirklichkeit jedoch entsetzlichen Defekt besitzt. Einen Defekt, der alles umfasst und ihr etwas Ekelhaftes verleiht. Jean-Jacques ist, als hätte sein inneres Auge schon vorher gewusst, dass diese Frau in Wirklichkeit ein Ungeheuer und der Abschaum der Natur ist. Wie um ihr seinen Zusammenbruch zu erklären, zeigt er auf ihre Brust, was sie aber nicht zu verstehen scheint. Jean-Jacques kichert ein bisschen, als ließe sich alles wieder einrenken. In diesem Augenblick sieht er, dass auf ihrer Kommode eine Pistole liegt. Die ist für den ersten Mann, der mich beleidigt, sagt sie. Dann steht sie auf, geht zum Fenster hinüber und schaut hinaus. Als Jean-Jacques sich neben sie stellen will, nimmt sie ihren Fächer, weist zur Tür hinüber und sagt zu ihm: Kleiner, lass die Frauen und studier Mathematik!
Ich will alles wiedergutmachen, nimmt er sich fest vor und bittet für den nächsten Tag um ein weiteres Treffen. Er möge lieber
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