Wintzenried: Roman (German Edition)
Licht der Vernunft redet. Sofort hat er Jean-Jacques’ Talente erkannt und ihm ein paar Pariser Adressen zugesteckt. Zum Dank dafür verfasste Jean-Jacques für ihn ein Abschiedsgedicht:
Ein Kind der Kunst, ein Kind der Natur,
Widersteh ich erfolglos dem steten Sterben;
Je wahrer ich bin, desto mehr spiel ich nur,
Und jünger werd ich durchs Älterwerden.
Hören Sie nicht so viel auf die Grillen des Gefühls, gab Condillac ihm zuletzt noch den Rat.
Und jetzt ist er in Paris und wundert sich, dass diese Stadt bei aller Pracht viel hässlicher ist, als man ihm immer erzählt hat. Zumindest in der Ecke, wo das von Condillac empfohlene Hotel liegt, von dem er behauptet hat, dort seien schon zahllose berühmte Männer abgestiegen. Ein hässliches Hotel mit einem hässlichen Zimmer und einem hässlichen Gasthaus in einer hässlichen Straße. Eine Geliebte kann ich hier niemals empfangen, war Jean-Jacques’ erster Gedanke. Wenn er berühmt ist, werden ihm die Frauen zu Füßen liegen. Mama wird sich noch wundern. Doch hierher, in dieses Hotel, kann er allenfalls Näherinnen oder Wäscherinnen mitschleppen, nur Frauen, mit denen er nichts anfangen kann.
Im Café gegenüber dem Hotel sitzen von morgens bis abends Musikanten, angehende Schriftsteller und Leute, die sich Philosophen nennen. Auch den Komponisten und Schachweltmeister Philidor, einen schlaksigen Kerl Anfang zwanzig, trifft man dort täglich an. Condillac hatte mit seiner Behauptung, dass sich in diesem Viertel die ganze Welt über den Weg läuft, offenbar recht.
Um mit diesen Leuten etwas zu reden zu haben, geht Jean-Jacques jetzt jeden Abend ins Theater. Das wenige, was er von Voltaire und Molière in Lyon und Grenoble gesehen hat, reicht nicht aus, um mithalten zu können. Außerdem redet man hier viel schneller als in Genf und in Savoyen. So schnell, dass sofort auffällt, wer sich erst überlegen muss, was er sagt, und die doppelte Zeit für einen Satz braucht. Jean-Jacques versucht jetzt, genauso schnell zu sprechen. Wüssten diese Leute, was er in der Tasche hat, sie würden ihn ganz anders behandeln. Nur hat er noch keine Idee, an wen er sich damit wenden kann. Doch es eilt. Sein Geld geht zu Ende. Der Schachweltmeister soll Verbindungen bis nach ganz oben besitzen. Jean-Jacques übt jetzt auf seinem Zimmer jede Nacht bis in den Morgen Schach mit sich selbst.
Einem Pater, den er gelegentlich aufsucht, wenn ihm nur noch zum Heulen ist, klagt er nach einem halben Jahr, in Paris sei kein Platz für ihn und zum Leben habe er auch nichts mehr.
Dann wechseln Sie die Seite, rät ihm der Pater.
Jean-Jacques versteht nicht.
Versuchen Sie es bei den Frauen!
Von einem Pater hätte Jean-Jacques etwas anderes erwartet.
Vielleicht haben Sie dort mehr Glück! In Paris erreicht man nur etwas über die Frauen, behauptet er und nennt sogar Namen. So viele, dass Jean-Jacques sie sich gar nicht merken kann. Lauter Damen, die einen Salon führen.
Alles andere, sagt der Pater, kann man vergessen. Nur über die Salons kann man es noch zu etwas bringen. Früher waren es die Universitäten, jetzt sind es die Salons.
Einen Namen nennt der Pater besonders oft: Madame Dupin.
Solange er aber noch zu keinem Salon Zutritt hat, bleibt Jean-Jacques nichts anderes übrig, als weiterhin sein letztes Geld ins Café zu tragen. Inzwischen begrüßt man ihn dort wie einen alten Bekannten, nur dass Philidor nach wie vor bloß mit solchen Gegnern Schach spielen will, gegen die er nicht bereits nach zwei Minuten gewinnt. Jean-Jacques muss andere Wege finden.
Er sitzt jetzt fast jeden Tag mit einem Gleichaltrigen zusammen, der eine Narbe auf der Stirn hat und ständig Molière zitiert. Die Narbe stammt von einer Schlägerei aus seiner Zöglingszeit bei den Jesuiten, die er hasst. Später hat er eine Weile studiert, ein bisschen dies, ein bisschen das. Eigentlich hätte er Pfarrer werden sollen. Eine Tonsur hatte er bereits, eine Glatze mitten im prächtigsten Haar. Inzwischen hat er Schulden. Sein Vater will ihm kein Geld mehr schicken. Doch er hat eine Idee. Ihm schwebt ein kolossales Werk vor. Etwas so Großes, wie es die Menschheit noch nicht kennt, bedeutender als die Pyramiden von Gizeh und alle Weltwunder zusammen. Ein Werk, in dem das ganze Wissen der Welt versammelt ist. Die Jesuiten haben bereits etwas Ähnliches versucht. Aber man muss es besser machen. Besser und größer. Und vor allem ohne Gott.
Jean-Jacques erzählt seinem neuen Freund, der Diderot heißt, von
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