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Wintzenried: Roman (German Edition)

Wintzenried: Roman (German Edition)

Titel: Wintzenried: Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Karl-Heinz Ott
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der Stelle umdrehen, doch die beiden haben ihn bereits bemerkt. Diderot winkt ihm so beiläufig zu, als wäre es das Selbstverständlichste der Welt, dass Jean-Jacques hier draußen plötzlich auftaucht. Stundenlang ist er in glühender Hitze an der Seine entlanggelaufen, immer das Bild vor Augen, dass sein am Boden zerstörter, durch die Haft vollkommen zerrütteter Freund überglücklich ist, wenn er ihn für ein paar Stunden von seiner Einsamkeit erlöst. Und jetzt sitzt er da und freut sich mit d’Alembert des Lebens. Anstatt mich zu seinem Mitherausgeber gemacht zu haben, denkt Jean-Jacques, hat er ihn vorgezogen. Und zwar nur, weil er so gut rechnen kann. Und weil er, wie es heißt, bald in die Akademie aufgenommen werden soll. Und weil er so gut Latein kann. Und weil er Medizin studiert hat und weiß Gott noch was alles. Ein Herz besitzt dieser Mensch deshalb noch lange nicht.
    Jean-Jacques kämpft mit den Tränen, versucht es aber zu verbergen. Ihm fällt nichts ein, was man jetzt sagen könnte. Kein einziger Satz. Auch die anderen lachen jetzt nicht mehr. Dabei ist überhaupt nichts passiert. Außer dass er dasteht und nicht weiß, ob er Diderot umarmen soll, und vielleicht auch d’Alembert, oder ob es besser wäre, einfach zu fragen, worüber die beiden gerade geredet haben.
    D’Alembert bittet ihn, sich zu setzen, Diderot klopft ihm auf die Schulter. Von Anfang an hatte Jean-Jacques diesen d’Alembert nicht gemocht. Warum, kann er nicht einmal sagen. Bisher zumindest nicht. Vielleicht sogar deshalb, weil er ihm nichts getan hat. Weil er aus reiner Freundlichkeit und Vernunft besteht. Weil er immer beherrscht ist. Weil seine Temperatur nie schwankt. Weil man sich bei ihm nie vorstellen kann, dass er einmal heult. Obwohl ein Findelkind doch eigentlich allen Grund hätte zu heulen, denkt Jean-Jacques. Seine Mama betreibt einen berühmten Salon, hat tausend Liebhaber, sogar Kardinäle gehen bei ihr aus und ein. Einer ihrer Männer hat sich sogar erschossen. Früher war die Dame eine Nonne. Und ganz Paris weiß das. Nur d’Alembert scheint das alles nicht zu berühren. Als spielte es für ihn nicht die geringste Rolle, lebt er bis heute mit seiner Stiefmutter in einer bescheidenen Behausung zusammen. Jean-Jacques kann das nicht begreifen. Vor allem nicht, dass man dann so vernünftig ist. Und beinahe gönnerhaft.
    Jean-Jacques hat noch keinem erzählt, dass auch er kürzlich schon sein drittes Kind aus dem Wochenbett geradewegs ins Findelhaus getragen hat. Außer ihm weiß es nur die Mutter. Ihr Gejammer und Gezeter kann er längst nicht mehr hören. Du würdest deine Kinder nur zu Vatermördern heranziehen, schreit er Thérèse jedes Mal an, wenn ihm ihr Geheul auf die Nerven geht. Im Übrigen ist nicht einmal sicher, ob sie überhaupt von ihm sind. Gar nicht zu reden davon, dass nie Geld im Haus ist. Weshalb ihm gar nichts anderes übrigbleibt, als sie ins Findelhaus zu bringen.
    Schön ist’s hier, sagt Jean-Jacques schließlich.
    Alle nicken.
    Wer kann schon von sich behaupten, in einem Schloss zu wohnen?
    Alle lachen.
    Hätte der Sonnenkönig Versailles nicht gebaut, säße ich jetzt hier mit seinem Sohn zusammen, sagt Diderot.
    Alle lachen.
    So schön, wie es hier ist, sagt Jean-Jacques, möchte ich auch einmal im Gefängnis sein.
    Wieder Gelächter.
    Sie seien gerade dabei, die Stichworte für die Enzyklopädie aufzuteilen. Den Buchstaben A. Er komme gerade recht. Diderot will mit dem Buchstaben A den absoluten Anfang machen. Wofür d’Alembert im Gegenzug den Begriff Absolutes bekommt. Jean-Jacques wundert es nicht, dass d’Alembert dabei als Allererstes an die absolute Zahl und nicht an Gott denkt. D’Alembert ist auch für Achse, Akustik, Algorithmus, Amplitude, Analogie, Analyse, Antichrist, Antipode, Argument und Asymptote zuständig. Diderot dagegen macht nach dem A mit dem ABC weiter und dann mit Ära, Abel, Abenteuer, Absinth, Absolution, Abstinenz, Abstrakt, Achill, Afrika, Amorbach, Amsterdam, Annecy, Antipapst, Arkadien, Armenien, Asphalt und Auvergne. Azur, Antipathie und Aurora teilen sich d’Alembert und Diderot. Für Jean-Jacques bleiben Akkord, Adagio, Allegro, Andante, Arie und Arpeggio übrig. Weil man ihn bei dem Stichwort Annecy nicht einmal angeschaut hat, könnte er schon wieder heulen. Wer denn, wenn nicht er, war dort jahrelang?! Doch er sagt nichts. Aber er bekommt noch ein außermusikalisches Stichwort: Authentisch.
    Jean-Jacques besucht seinen Gefangenen jetzt alle

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