Wintzenried: Roman (German Edition)
versehen: Tugendhaft spreche ich zu den Tugendhaften! Wie schön wäre es, wenn Anstand Tugend wäre! Prunk ist der Tugend fremd! Je mehr der Fortschritt der Wissenschaften und Künste Licht über unserem Horizont aufgehen ließ, desto weiter entfernte sich von uns die Tugend! Rom, von einem Hirten erbaut und von Ackersleuten zu einem Tempel der Tugend gemacht, wurde von schamlosen Dichtern in eine Schaubühne aller Laster verwandelt! Jene wenigen Völker, die von der Seuche eitler Gelehrsamkeit frei geblieben sind, haben durch ihre Tugend ihr Glück befördert! O Tugend, du erhabene Wissenschaft einfacher Seelen!
Er wird die Einfalt rühmen und Sokrates zitieren, der von sich behauptet hatte, nichts zu wissen.
Und er wird seinen Freunden, den Philosophen und Enzyklopädisten, einen Satz hinwerfen, an dem sie zu schlucken haben: Schaut Euch einmal die Wichtigkeit Eurer Erfindungen an und sagt uns dann, was wir von dem Haufen gelehrter Müßiggänger denken sollen, die das Vermögen des Staates nutzlos verschlingen! Was tun sie denn, diese klugdummen Großredner, außer die Grundfesten unseres Glaubens und unserer Tugend vernichten, über das Vaterland und die Religion spotten und ihre Philosophie dem Umsturz dessen, was heilig ist unter uns Menschen, widmen?!
Auch seinem einstigen Vorbild wird er die Meinung sagen: Sagen Sie uns doch, verehrter Herr Voltaire, wird er schreiben, wie viel wahre mannhafte Schönheit habt Ihr bloßer Galanterie geopfert?
Und ganz zum Schluss muss es heißen: Wie wunderbar wäre es, wenn wir wieder auf unser Herz hörten und unsere Tugend aus nichts anderem als Anstand bestände.
Jean-Jacques könnte heulen, toben, brüllen vor Glück, obwohl seine Entdeckung schrecklich ist und jetzt nur noch Abgründe vor seinen Augen klaffen. Klarer hat ein Mensch nie gesehen. Und deshalb wird er so lange, bis seine Schrift abgeschickt ist, weder mit Diderot noch sonst einem darüber sprechen, denn sie alle würden alles gleich wieder zerreden und zerpflücken und so lange darüber diskutieren und debattieren, bis man am Ende wieder nicht wüsste, was eigentlich die Wahrheit ist. Einer wie d’Alembert, der sich mit Intelligenz panzert, würde ihn sowieso nicht verstehen.
Zehn Tage lang kann Jean-Jacques sich an seinen Sätzen gar nicht genug berauschen. Dann ist das Werk fertig. Danach brütet er wieder über seinen Musikartikeln, die ihm weit weniger leicht von der Hand gehen.
Wochen verstreichen. Diderot, der inzwischen wieder frei ist, hätte schon beinahe vergessen, dass sie draußen in Vincennes einmal über ein Preisausschreiben geredet haben, würde ihn nicht eines Morgens Jean-Jacques aus dem Bett reißen, der gerade erfahren hat, dass ihm der Preis gehört.
Zwar hat Diderot das Werk noch nicht gelesen, doch er eilt mit Jean-Jacques sofort in die Redaktionsräume des Mercure de France , wo es noch am gleichen Tag in den Druck geht.
Drei Tage später redet ganz Frankreich davon. Es ist ein Fanal. Ein Aufstand gegen die Zivilisation. Man hätte alles gedacht, nur das nicht: Ein Skribent, der dem Enzyklopädisten-Club angehört, trumpft mit einem Traktat auf, der ausgerechnet die Aufklärung verdammt. Jean-Jacques ist über Nacht ein berühmter Mann. Was auch der Enzyklopädie nur nützen kann, sagt sich Diderot. Er geht davon aus, dass Jean-Jacques kein Wort von dem glaubt, was er da alles behauptet.
Unverzüglich hat Jean-Jacques an die Akademie in Dijon geschrieben: Indem Sie mich mit Ruhm bedeckt haben, haben Sie sich selbst einen Lorbeerkranz aufgesetzt!
Eine erste Wortmeldung auf die Veröffentlichung kommt ausgerechnet aus Dijon von einem Akademiemitglied, das die Entscheidung seiner Kollegen für geradezu absurd hält. Würde man solche Thesen ernst nehmen, behauptet er, müsste die Akademie sich sofort selbst abschaffen. Wozu noch Medizin und Juristerei, wozu überhaupt noch irgendwelche Kenntnisse und Künste, fragt er, wenn sie die Quellen allen Übels sind und wir im Zustand animalischer Geistlosigkeit besser leben würden? Warum nicht unverzüglich mit allem Denken und Schreiben aufhören, wenn es nur unsere Moral zerstört und solche fürchterlichen Dinge wie Wohlstand und Luxus hervorbringt?
Dieser Herr kann nur eine einzige Erklärung für die Entscheidung der Akademie finden: Man habe sich von schön klingenden Phrasen einlullen lassen, ohne an die Konsequenzen zu denken, die man daraus ziehen müsste, würde man dieses Geschwätz wirklich ernst nehmen.
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