Wintzenried: Roman (German Edition)
Geschäftsleute oder kleine Aufschneider vom Land handelt, die sich ein paar Tage in Paris aufhalten und meinen, mit Flegeleien ganz besonders städtisch zu wirken. Es ist, als wollte Thérèse alles schnell hinter sich bringen, das Auftischen und Abräumen und vor allem das ganze Geschwätz dazwischen.
Schön ist sie nicht, denkt Jean-Jacques, und trotzdem hat sie etwas Anziehendes. Etwas Derbes und Unschuldiges zugleich. Wie ein Mädchen vom Land, das schon manches mitgemacht hat und doch von allem unberührt geblieben ist. Mit einer Spur von Verwegenheit, hinter der auch nur Unsicherheit stecken kann. Zu ihrem forschen Gang jedenfalls will ihr ein wenig scheuer Blick nicht passen, der allerdings auch etwas Verächtliches besitzt. Vielleicht, so sagt sich Jean-Jacques, ist sie sogar schön, aber ganz anders als die Pariserinnen. Dabei hat sie etwas durchaus Entschiedenes an sich, wozu gehört, dass sie zurückhaltend bis zur Sturheit ist. Befehlen lässt sie sich nichts, am allerwenigsten von diesen Leuten hier am Tisch, die sie abtatschen und in den Hintern zwicken, wenn sie sich, mit der dampfenden Suppenschüssel in den Händen, nicht wehren kann. Jean-Jacques kann über die ständigen Sprüche und Witze kaum lachen und hat das Gefühl, diese Frau beschützen zu müssen, obwohl sie überhaupt nicht den Eindruck macht, beschützt werden zu wollen.
Ihn lässt aber auch der Gedanke nicht los, dass sie es vielleicht tatsächlich mit allen treibt. Vielleicht, sagt er sich, setzt sie ihren ein wenig verächtlichen Blick sogar als Lockmittel ein, um diesen Männerhaufen nur umso mehr zu reizen. Vielleicht verbirgt sich hinter ihrer scheinbaren Unberührbarkeit auch noch etwas ganz anderes. Von nichts kann der allseitige Hinweis schließlich nicht kommen, dass sie sofort zu haben sei, denkt Jean-Jacques. Außer man wollte ihn bloß auslachen, sollte er es tatsächlich bei dieser Frau versuchen wollen. Immerhin schaut sie ihn anders an als die anderen. Genau genommen ist er sogar der Einzige, den sie überhaupt anschaut. Manchmal fragt er sich, wer von ihnen beiden den anderen mehr anschaut. Oder ob er sie nur anschaut, weil sie ihn anschaut. Dann wieder fragt er sich, ob sie ihn nur deshalb so anschaut, weil er der Einzige am Tisch ist, der es mit ihr noch nicht getan hat. Als handelte es sich sogar um ein abgekartetes Spiel. Um eine Wette oder eine Art Ritual.
Eines Nachts passt er sie ab und will von ihr wissen, ob sie noch Jungfrau ist. Sie nickt, er fällt ihr um den Hals und schwört Thérèse am nächsten Morgen, immer bei ihr zu bleiben. Weil sie nicht lesen und schreiben und auch die Zeichen auf der Uhr nicht entziffern kann, will Jean-Jacques ihr das alles beibringen.
Warum, fragt Thérèse, soll ich das alles können sollen? Zum ersten Mal merkt Jean-Jacques, dass man sich Dinge fragen kann, auf die er nie gekommen wäre.
Nach ein paar Tagen ziehen sie zusammen in ein gemeinsames Zimmer, in dem ein Tisch, ein Bett und ein Herd stehen. Vom dritten Stock sehen sie auf die Straße hinab.
Als Jean-Jacques eines Abends heimkommt, behauptet Thérèse steif und fest, der Papst sei bei ihr gewesen. Jean-Jacques kann darüber nicht einmal lachen. Thérèse beteuert, dass es kein Witz sei. Auch sie selbst sei erschrocken, habe kein einziges vernünftiges Wort mehr herausgebracht und nur noch Unsinn gestammelt. Im Grunde zittere sie immer noch, obwohl es eigentlich gar nichts Besonderes gewesen sei, dass er plötzlich vor ihr gestanden habe.
Jean-Jacques vermutet, dass jemand Noten zum Kopieren bringen wollte. Doch Thérèse schwört, dass er sich als Kaplan vorgestellt und einen schwarzen Talar angehabt habe. Womit klar ist, dass es Klüpfel gewesen sein muss, mit dem Jean-Jacques hin und wieder in Tavernen unterwegs ist. Manchmal ist dann auch noch Grimm dabei, und zuweilen bringt Klüpfel auch ein Mädchen mit, dem er eine Wohnung eingerichtet hat, in der es Männer empfängt.
Eines Abends, als man schon länger sitzt, schlägt Klüpfel vor, dass jetzt jeder von ihnen mit seiner Kleinen ins Nebenzimmer geht. Das Mädchen weiß nicht, ob es heulen oder lachen soll.
Nach einer Stunde sitzen sie alle wieder zusammen am Tisch. Grimm fängt an, übers Theater zu reden. Klüpfel trinkt noch ein Glas Wein. Jean-Jacques sagt kein einziges Wort mehr.
Endlich allein, beginnt Jean-Jacques durch die nächtlichen Straßen zu laufen, zuerst Richtung daheim, dann wieder zurück und ziellos durch allerlei Gassen, voller
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