Wintzenried: Roman (German Edition)
paar Tage. Nie gab es einen so schönen Anlass, stundenlang an der Seine entlang vor sich hin zu träumen. Seinetwegen kann Diderot noch lange dort draußen bleiben. D’Alembert trifft man bei ihm inzwischen nicht mehr an.
Meist hat Jean-Jacques auf dem Weg nach Vincennes die neueste Ausgabe des Mercure de France dabei. Eines Tages stößt er darin auf eine Wettbewerbsfrage der Akademie von Dijon, die lautet: Hat der Fortschritt der Wissenschaften und Künste unsere Sitten verfeinert oder verdorben?
Jean-Jacques wird ganz unruhig. Er will gewinnen. Es ist seine letzte Gelegenheit, berühmt zu werden. Er fängt an zu rennen. Er muss es Diderot sofort erzählen und macht sich gleich ein paar Gedanken. Er wird den Fortschritt rühmen, die Wissenschaften, die Künste. Deshalb ist er schließlich nach Paris gekommen. Voltaire hat es ja in seinen Philosophischen Briefen geschrieben: Frankreich ist das Land der Schönen Künste. Das Land der Dichter und Denker. Diderot wird begeistert sein. Das Preisgeld wird er Mama schenken. Sie wird nach Paris pilgern und ihn an sich drücken wollen. Er wird ein bisschen reserviert bleiben. Nach zwei, drei Tagen wird er dann gütiger werden, sie aber nicht gleich umarmen. Man muss sie, sagt Jean-Jacques sich, mit einer Spur huldreicher Herablassung behandeln.
Ich werde die Wissenschaften und die Künste rühmen, das Licht der Vernunft besingen, den Fortschritt preisen und dafür den Preis bekommen, fällt Jean-Jacques Diderot um den Hals.
Diderot begreift nicht gleich, versteht aber allmählich, dass es sich um eine Art Preisausschreiben handelt, von einer Akademie in Dijon, von der er noch nie etwas gehört hat.
Natürlich ist Diderot ganz und gar dafür, dass Jean-Jacques sofort zur Feder greift. Nur schaut er ihn, je länger sein hechelndes Gerede von der Vernunft, der Menschheit, dem Fortschritt und dem Glück anhält, zunehmend befremdeter an und schüttelt auf einmal den Kopf.
Lass es, sagt er.
Jean-Jacques begreift nicht.
Die Spatzen pfeifen’s längst von den Dächern, und jeder Esel behauptet inzwischen, dass die Vernunft das Größte ist, dass die Menschheit dem Glück entgegenrennt, dass Wissenschaft Fortschritt bringt und die Künste die Sitten verfeinern. Eulen nach Athen tragen heißt das!
Was soll ich dann schreiben?, fragt Jean-Jacques.
Einfach das Gegenteil.
Das Gegenteil?
Dass Wissenschaft und Kunst eine Katastrophe sind und Fortschritt nur Unheil bringt, lacht Diderot. Wozu Kompass und Schwarzpulver?! Haben sie je etwas Gutes gebracht?! Und der Buchdruck?! Das Theater?! Haben sie uns moralischer gemacht? Schlag zu!
Jean-Jacques will nicht glauben, dass jemand, der mit seiner Enzyklopädie die Vernunft auch noch in die letzten Winkel der Erde tragen will, derart leichtfertig mit der Wahrheit umgehen kann. Auch Condillac hatte ihm in Lyon von nichts anderem als der Vernunft vorgeschwärmt. Ganze Tage lang. Jean-Jacques ist zu allem, nur nicht zu einer solchen Lüge bereit.
Wenn du nicht behauptest, dass das alles grauenhaft ist, hast du keine Chance. Sonst ist es langweilig, sagt Diderot noch ein paar Mal.
Und die Wahrheit, fragt Rousseau, was ist mit der Wahrheit?
Man muss den Wahnsinn zur Methode machen, damit am Schluss die Vernunft übrig bleibt, behauptet Diderot.
In Jean-Jacques wehrt sich alles, auch wenn er nicht leugnen kann, dass Diderot vielleicht sogar recht hat. Andererseits kann man nicht einfach das Gegenteil dessen behaupten, was richtig ist, sagt er sich. Immerhin steht am Ende der eigene Name über einer solchen Schrift. Was heißt, dass man danach nicht einfach frech erklären kann, das Gegenteil von dem zu glauben, was man verkündet hat. Vor allem dann nicht, wenn man den Preis bekommt. Diderot mag das egal sein, denkt Jean-Jacques, mir nicht.
Diderot fängt bereits an, ihm ein paar griffige Sätze vorzuformulieren: Die Wissenschaften und Künste machen uns zu Sklaven überzüchteter Sitten und erwürgen unsere ursprüngliche Natur. Sie zwingen uns eine gekünstelte Sprache auf, erdrosseln die reinen Gefühle des Herzens und führen zu nichts als Ausschweifung, Verderbnis und Liederlichkeit.
Wie klingt das?, fragt er Jean-Jacques und befiehlt ihm: Schreib mit!
Wissenschaft, fährt er fort, ist nichts als eitles Geschwätz, mit dem sich der Gebildete gespreizt in Szene setzt. Der Künstler wiederum giert nach nichts anderem als Applaus. Um Wahrheit geht es ihm nicht, nur um Beifall. Ohne Huldigungen ist er ein Nichts, ein
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