Wintzenried: Roman (German Edition)
Häuflein Elend, eine jämmerliche Gestalt. Der Buchdruck hat über Europa nur das schlimmste Elend gebracht. Gutenberg ist der größte Verbrecher der Menschheit.
Jean-Jacques sträubt sich die Feder. Es ist ihm zuwider, einen solchen Irrsinn aufs Papier zu bringen. Doch Diderot meint es ernst, auch wenn er mit keinem Wort glaubt, was er da sagt. Aber es ist der einzige Weg, sich Gehör zu verschaffen und sich interessant zu machen, behauptet er seelenruhig.
Dann schreib doch du diese Schrift, schlägt Jean-Jacques vor.
Ich will keinen Preis, sagt er. Als wäre es lächerlich, das Provinzspektakel einer Akademie aus Dijon, von der in Paris noch nie jemand gehört hat, überhaupt zur Kenntnis zu nehmen.
Auf dem Heimweg ist Jean-Jacques mit jedem Schritt mehr davon überzeugt, dass Diderot nicht einmal unrecht hat. Mit einer Hymne auf den Fortschritt lockt man keinen toten Hund mehr hinter dem Ofen hervor. Diderot hat recht, obwohl er unrecht hat. Man muss nur anfangen, an das zu glauben, was er sagt. Diderot weiß gar nicht, wie recht er hat. Im Grunde, so hat Jean-Jacques allmählich das Gefühl, hat Diderot mich auf Gedanken gebracht, die ich eigentlich immer schon hatte. Diderot sagt die Wahrheit, ohne es ernst zu meinen. Die Menschheit ist verrottet. Und zwar deshalb, weil es so viel Kunst und Wissenschaft gibt. Die Sache ist sonnenklar. Vernunft ist Selbstbetrug. Ist reine Lüge. Ist das Übel selbst. Ist die Krankheit, die sie zu heilen vorgibt. Ist mit Blindheit geschlagen. Nichts ist finsterer als die Aufklärung, nichts zerstörerischer als der Fortschritt. Es gibt nichts Schöneres als ein Gefühl, das noch nicht denken kann.
Jean-Jacques ist wie vom Blitz getroffen. Dieser Tag wird sein Leben verändern. Nicht nur seines, sondern das der ganzen Welt. Ihm ist, als würde sich die Erde vor ihm auftun. Tiefer als er hat noch keiner gesehen. Es ist ein unsägliches Glück und der herrlichste Schrecken zugleich. Eine Illumination, bei der sich alles in neuem Licht zeigt: die ganze Geschichte der Menschheit, alles Leben überhaupt.
Jean-Jacques muss sich setzen. Ein paar Sätze notieren. Aus lauter Angst, die Illumination könnte sich sonst sofort wieder verflüchtigen.
Mir war auf einmal klar, wird er in seiner Preisschrift verkünden, dass Kultur und Wissenschaft der Ursprung allen Übels sind, dass der Mensch sich mit jedem Tag der Natur immer mehr entfremdet, dass das, was wir als Zivilisation rühmen, nichts als Dekadenz ist.
Weiter wird er schreiben: Zu allen Zeiten gibt es Leute, die sich von den Meinungen ihres Jahrhunderts fesseln lassen, doch für solche Leute darf nicht schreiben, wer über sein Jahrhundert hinaus bestehen will.
Meine Sätze müssen wie Aphorismen klingen, sagt Jean-Jacques sich und schreibt: Rechtschaffenheit ist dem Rechtschaffenen lieber als dem Gelehrten seine Gelehrsamkeit.
Oder: Ich weiß nicht, welches gelehrte Gewäsch, das tausendmal verachtenswerter als jede Unwissenheit ist, sich inzwischen den Mantel der Wissenschaft umhängt.
Am Ende muss er Cato und Sparta rühmen, die Zucht, das Karge, das Soldatische. Und Athen verdammen. Den Luxus, die Unzucht, das Frivole. Athen ist daran untergegangen. An zu viel Kunst und Philosophie, was alles miteinander zusammenhängt. Denn je mehr wir wissen, desto sittenloser sind wir. Auch das, findet Jean-Jacques, ist ein wunderbarer Satz. Und er wird noch hinzufügen: Je greller das Licht der Vernunft leuchtet, desto verderbter werden unsere Sitten. Die Wissenschaften und Künste verdanken ihre Geburt unseren Lastern. Je mehr die Bequemlichkeiten des Lebens sich vermehren, die Künste sich perfektionieren, der Luxus sich ausbreitet, desto mehr verschwinden wahrhafte Tapferkeit und soldatische Tugend. Es ist das Werk der Wissenschaften und jener Künste, die in aller Ruhe und in schattigen Räumen ausgeübt werden. Die Kultur des Wissens schadet unserer kriegerischen Begabung und zerstört die Sitten.
Er wird die Germanen rühmen, weil sie sich der römischen Dekadenz verweigert haben, und die Goten dafür tadeln, dass sie auf ihren Eroberungszügen nicht alle Bibliotheken zerstört und damit die wahre Barbarei ausgemerzt haben. Und er wird in diesem Zusammenhang sagen: Der Fortschritt der Wissenschaften und der Künste hat alles Schlichte und Starke vernichtet. Er hat die Sitten verdorben und nur Unheil gebracht.
Immer wieder wird er griffige Sentenzen mit dem eisernen Wort Tugend einstreuen und sie mit einem Ausrufezeichen
Weitere Kostenlose Bücher