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Wintzenried: Roman (German Edition)

Wintzenried: Roman (German Edition)

Titel: Wintzenried: Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Karl-Heinz Ott
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nach Hause kommt, sitzt Grimm bei Thérèse am Tisch.
    Ich selbst habe mit ihr ja nur geredet, lacht er, du warst am längsten bei ihr drin.
    Jean-Jacques weiß jetzt, dass er diesen Menschen immer schon gehasst hat. Thérèse fühlt er sich wieder so nah, als wäre nie etwas vorgefallen.
    Wochen später geht er zum ersten Mal nach dieser Nacht wieder ins Café, wo die bekannte Runde sitzt. Aus Bange, sonst nicht mehr an dem großen Werk beteiligt zu sein, muss er sich dort wieder einmal sehen lassen. Inzwischen werden, wie er geahnt hat, bereits die Stichworte aufgeteilt. Diderot ist fürs Ganze zuständig, Grimm für Dichtung, Holbach für Wissenschaft, Jean-Jacques immer noch für alles, was mit Musik zu tun hat. Klüpfel ist abgereist. Er will sein Geld wieder als Privatprediger bei Grafen und Herzögen verdienen.
    Grimm und Holbach, so kommt es Jean-Jacques zunehmend vor, wollen ihm vorführen, dass sie viel flinker französisch parlieren können als er. Sie wollen sogar französischer als die Franzosen sein. Bis hin zur Affektiertheit. Mit einer Sprache, die geradezu parfümiert wirkt. Gar nicht zu reden von ihrem manierierten Lippenspiel bei jedem noch so belanglosen Satz. Er wünschte sich, wie früher mit Diderot allein zu sein. Mit den anderen redet, lacht und albert er genauso herum wie mit ihm. Und trotzdem meint Jean-Jacques zu spüren, dass er dann haushälterischer mit seinen Gefühlen umgeht. Freundschaft brauche ein kleines Geheimnis, hatte Diderot einmal aus Molières Menschenfeind zitiert. Ein wirkliches Geheimnis, so hat Jean-Jacques das Gefühl, kann es nur zwischen zweien geben.

VI
    D iderot sitzt in Haft. Geldgeber für das kolossale Unternehmen, das von nun an Enzyklopädie genannt wird, sind inzwischen gefunden. Bald werden Aberdutzende von Druckern, Buchbindern und Kupferstechern mit dem Jahrtausendwerk beginnen. Diderot hat noch einen Mitherausgeber gefunden, eines der berühmtesten Findelkinder der Stadt. Eine Salondame hatte es auf den Stufen einer Kirche ausgesetzt. Es ist der Physiker d’Alembert, dem man bislang als Einzigem nachsagen kann, dass er durch seine wissenschaftlichen Entdeckungen bereits berühmt geworden ist. Wahrscheinlich hat man es ihm zu verdanken, behauptet Diderot, dass sogar die russische Zarin schon wissen wollte, wann die Enzyklopädie fertig ist.
    Allerdings meinte Diderot inmitten dieses Aufschwungs mit einer kleinen Schrift Aufsehen erregen zu müssen, in der er einen englischen Mathematiker auf dem Totenbett zum Pfarrer sagen lässt: Wenn Sie mir mit Gott kommen wollen, muss ich ihn vorher anfassen können. Augenlicht, Blindheit und Aufklärung, dachte Diderot, gehören irgendwie zusammen, und er wollte damit all jene ein bisschen provozieren, die ans Unsichtbare glauben. Herausgegeben hatte er seine Schrift zwar anonym, doch zahllose Exemplare mit Widmungen verschickt und auch allen voller Stolz erzählt, dass sie von keinem anderen als ihm stammt. Zuerst wusste man es in den Cafés, ein paar Tage später in ganz Paris. Auch Voltaire bekam ein Exemplar und schrieb zurück, das Werk sei wunderbar, nur sei es ziemlich simpel, zu glauben, dass alles, was man nicht sehen kann, auch nicht existiert. Gerade ein Mathematiker, behauptete er, müsste das eigentlich wissen, denn noch nie habe ein Mensch eine Zahl sehen können, außer als Kreidekringel an der Tafel. Diderot ist stolz auf diese vernichtende Antwort, denn er kann von jetzt an überall verkünden: Voltaire hat mir geschrieben!
    Bevor er ins Gefängnis kam, hatte Diderot sich noch damit verteidigen wollen, solche Sätze lediglich seinen Figuren in den Mund gelegt zu haben. Mit seiner eigenen Meinung müsse das überhaupt nichts zu tun haben. Dem Polizeipräfekten konnte man mit solchen Haarspaltereien nicht kommen. Auf dem Weg ins Schloss von Vincennes hinaus, wo Diderot seither einsitzt, hatte dieser Mann sich darüber gewundert, dass Philosophen so dumm sein können, aus lauter Eitelkeit der ganzen Welt verraten zu müssen, wer hinter solchen Pamphleten steckt.
    Als Jean-Jacques zum ersten Mal den endlosen Innenhof des Schlosses von Vincennes betritt, sitzt Diderot auf einer Bank, doch nicht allein. D’Alembert ist bei ihm, und Diderot albert mit ihm herum, als wäre es eine Lust, im Gefängnis zu sitzen. Jean-Jacques hatte sich vorgestellt, wie er ihm um den Hals fallen, wie er ihn trösten und wie Diderot weinen würde, wenn er ihn am frühen Abend wieder verlassen müsste. Am liebsten würde er auf

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