Wintzenried: Roman (German Edition)
und dabei so rot im Gesicht werden, dass man fürchten muss, auf der Stelle könnten ihre Adern platzen und sie in ihrer eigenen Blutlache die letzten Seufzer von sich geben, während das Orchester wie immer bloß lärmt. Grandios muss bei euch immer alles sein, so grandios und maßlos, dass es längst wieder lächerlich ist. Schaut nach Italien, wo die Opern keine aufgeblähten Chöre und kein äffisches Ballett brauchen, einem aber vor Glück sofort die Tränen kommen, wenn die Sänger den ersten Ton anstimmen!
Als er seinen Brief über die französische Musik beendet hat, kommt Jean-Jacques zu Ohren, dass in Paris ein Stück von Diderot gespielt wird, in dem der Satz fällt: Der Gute lebt in Gesellschaft, der Böse für sich allein. Was nur auf ihn gemünzt sein kann. Diderot ist zu feige, es ihm selbst ins Gesicht zu sagen, und muss es stattdessen der ganzen Welt kundtun.
Grimm bringt ihm in diesen Tagen den soeben erschienenen siebten Band der Enzyklopädie vorbei. Es findet sich in ihm ein Artikel über Genf, der mit den Sätzen beginnt: Diese Stadt liegt zwischen zwei Hügeln am Ende eines Sees, der heute ihren Namen trägt und früher Lac Leman hieß. Die Lage ist sehr angenehm, von der einen Seite schaut man auf den See, auf der anderen fließt die Rhône durch eine heitere Landschaft, an deren Hängen ländliche Häuser stehen, von denen man auf die Gletscher der Alpen blickt, die an sonnigen Tagen silbern leuchten. Der Genfer Hafen mit seiner Landungsbrücke, seinen Schiffen und Märkten, seiner Lage zwischen Frankreich, Italien und Deutschland sorgt für regen Handel und Reichtum. Die Straßen sind die ganze Nacht über beleuchtet.
Wogegen nicht das Geringste zu sagen wäre, hieße der Verfasser nicht d’Alembert. Ausgerechnet d’Alembert, der mit Voltaire unter einer Decke steckt und ihn eigens auf seinem Schloss besucht hat, was nur beweist, dass die Hälfte des Artikels, wenn nicht sogar der ganze, von keinem anderen als von Voltaire selbst stammt. Dass man nicht ihn, Jean-Jacques, den einzigen Kundigen, dazu auserkoren hat, einen Beitrag über Genf zu verfassen, beweist, dass man sich gegen ihn verschworen hat. Und sei es, weil er niemals wie d’Alembert diese Stadt dafür gerügt hätte, dass sie kein Theater besitzt und jede Art von Schauspiel verboten hat. D’Alembert dagegen glaubte, die Genfer darüber belehren zu müssen, dass ein Theater ihrer Stadt gut anstehen und zur Hebung der Sitten und des Geschmacks beitragen würde. Genf, behauptet er, besitze für viele Franzosen etwas Trostloses.
Jean-Jacques greift sofort zur Feder. Es geht um weit mehr als nur die Ehre seiner Vaterstadt. Ein Mann wie d’Alembert, der nicht an Gott glaubt, hat anderen nicht vorzuschreiben, was sie zu tun haben. Und all das nur, um jenem Voltaire einen Gefallen zu tun, der seit Jahren die Genfer mit seinen verbotenen Theateraufführungen provoziert.
Blind sind wir inmitten der Aufklärung! Mit diesem Satz lässt Jean-Jacques seinen Brief an d’Alembert fanalartig beginnen. Und weil alles mit allem zusammenhängt, kommt er auch sofort auf Diderots Bemerkung zu sprechen: Der Gute lebt in Gesellschaft, der Böse für sich allein.
Man macht mich zum Menschenfeind, bemerkt Jean-Jacques dazu, doch ich sage euch: Nur der Menschenfeind ist der wahre Menschenfreund! Es ist ganz anders, als es euch euer Molière erzählt, den die ganze Welt verehrt und den ihr für einen Moralisten haltet. Womit ihr euch nur wieder einmal über euch selbst täuscht. Denn was will er denn? Was wollen alle diese Komödianten? Diese Schauspieler und Grimassierer? Moral und Wahrheit? Dass ich nicht lache! Nutten sind es und Huren. Gefallen wollen sie und Applaus. Die Leute sollen lachen und klatschen. Was nur gelingt, wenn man ihre niedrigsten Instinkte kitzelt. Den Tugendhaften zu einem Idioten macht. Den Mann mit Anstand zu einem Misanthropen. Den Mann mit Vernunft zu einem Tyrannen. Den Mann der Ehre zu einem Eifersüchtigen. Den Mann der Pflicht zu einem Pedanten. Den alten Liebenden zu einem grotesken Gecken. Womit man die Jugend lehrt, dass die Welt aus Heuchlern und Irren besteht. Dass alles Gute und Wahre nur Lug und Trug und alles Obszöne sein Geld wert ist.
Und wer eigentlich, fragt Jean-Jacques, geht denn ins Theater? Etwa das Volk? Ich sehe dort nur Adlige und Leute, die sich Aufklärer nennen. Leute, die abends nicht müde von ihrer Arbeit nach Hause kommen, sondern ihren Tag erst, wenn es dunkelt, beginnen lassen.
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