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Wintzenried: Roman (German Edition)

Wintzenried: Roman (German Edition)

Titel: Wintzenried: Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Karl-Heinz Ott
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beraubt aller Tröstungen für einen Sterbenden, ehrlos auf einen Schindanger geworfen, während Sie alle Ehren, die ein Mensch erwarten kann, in meinem Land empfangen. Ich hasse Sie. Sie wollen es so.
    Im Postskriptum fragt Jean-Jacques, ob er den Brief veröffentlichen darf.

IX
    D ass ihn Katholiken aus Paris verjagt haben, ließe sich vielleicht noch begreifen. Weil man aber auch in Genf seinen Emile verbrennt, ruft er seinen Landsleuten von nun an zu: Euch interessiert nur Geld, Ihr seid nicht das wiederauferstandene Sparta, als das ich Euch überall in der Welt gerühmt habe!
    Weil im Neuchâteler Land kein Schweizer über Schweizer regiert, sondern ein Schotte, den Friedrich der Große zum Gouverneur seiner helvetischen Enklave ernannt hat, kann Jean-Jacques nur noch hier Zuflucht finden. Lord Marischal ist ein dünner, adlernasiger Greis und die Güte in Person. Gleich bei ihrer ersten Begegnung sagt Jean-Jacques Vater zu ihm.
    Der Preußenkönig selbst hat ihm Unterschlupf in Potsdam angeboten, doch er will weder bei einem Freund Voltaires zu Gast sein, noch ist ihm entgangen, dass Friedrich von seinen Ansichten nicht allzu viel hält. Deshalb lehnt er auch dessen Angebot ab, ihm eine jährliche Rente zukommen zu lassen. Noch immer ist Jean-Jacques mit Notenkopieren durchgekommen, was er auch weiterhin so halten will, obwohl ihm klar ist, dass in einem Dorf, wo Hühner, Enten und Schweine durch die Gassen spazieren, kein Mensch einen Notenkopisten braucht. Doch er will sich lieber ein paar Hühner zulegen und Salat und gelbe Rüben anpflanzen als wie Voltaire ein Fürstenknecht zu werden. Weshalb er auch das Fass Wein, den Sack Getreide und den Karren mit Brennholz, die Lord Marischal ihm gleich am ersten Tag zukommen lässt, auf der Stelle zurückbringt.
    In dem vor der Welt verborgenen Dörfchen Môtiers, das von einem Berg geschützt ist, hinter dem gleich Frankreich anfängt, ist Jean-Jacques gewillt, den Rest seines Lebens zu verbringen. Hier möchte er, als freier Mann auf freiem Grund, sterben, inmitten eines Volkes, das von den Intrigen der Genfer Pastoren nichts weiß und auch nichts wissen will. Hier kann er endlich wieder die Sprache der Bauern sprechen und muss sich nicht mehr wie in Paris mit Worten verstellen, aus denen jedes Leben geschwunden ist. Die Wahrheit ist hier noch die Wahrheit, ein Gefühl noch ein Gefühl und Liebe noch Liebe. Statt auf Paläste und Schlösser blickt er jetzt auf einen kunstlosen Kirchturm, den ein Wetterhahn schmückt.
    Alles in diesem Dorf entspricht jenen Idealen, wie er sie in seinem Emile gezeichnet hat: ein bescheidenes Haus am Abhang, mit grünen Fensterläden und einem Ziegeldach, dahinter ein Hühnerhof, daneben ein Kuhstall, rundum Obstgärten und Haselnusssträucher, weit und breit kein künstlich gezüchtetes Zierobst und keine Spaliergärten, wie man sie im dekadenten Paris an allen Ecken sieht. Auch kommt hier in keinem einzigen Haus ein feines Ragout auf den Tisch, sondern nur schlichtes Brot und einfacher Wein. Jeder ist sein eigener Herr und sein eigener Diener zugleich, keiner ist reich und keiner ganz arm, nirgends gibt es Gezänk und Geschrei, durch Vernunft und Wissenschaft ist hier noch niemand verdorben, und was die Musik angeht, so ist sie sogar noch viel natürlicher als die italienische.
    Wahres Vergnügen, ruft Jean-Jacques am ersten Morgen aus dem oberen Fenster auf die Gasse hinab, wahres Vergnügen ist nur das, was man mit dem Volk teilt. Exklusive Genüsse sind der Tod der Lust. Adieu Paris, Stadt des Lärms, des Rauchs und des Drecks, wo die Frauen nicht mehr an die Ehre und die Männer nicht mehr an die Tugend glauben, nie können wir weit genug weg von dir sein!
    Außer ein paar spielenden Kindern, die nicht begreifen, was dieser Mann von seinem Fenster herab verkündet, ist niemand unterwegs. Als er ihnen Süßigkeiten auf die Straße hinabwirft, sagt ein Mädchen: Von Fremden dürfen wir nichts annehmen. Dann stehen sie noch eine Weile da und schauen stumm zu ihm hinauf. Als er das Fenster schließt, rennen sie weg.
    Thérèse sitzt nach wie vor auf dem Landgut von Madame de Luxembourg, mit der ihr nichts zu reden einfällt, so wie Madame ebenfalls keine Ahnung hat, was sie ohne Jean-Jacques mit diesem Weib noch anfangen soll. Beide hätten nichts dagegen gehabt, wenn er sie gleich mitgenommen hätte. Auch wenn Madame, wie zumeist, in der Stadt ist, fühlt Thérèse sich nicht wohler dort draußen in diesem endlosen Park, wo das

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