Wintzenried: Roman (German Edition)
dass ihm Doktor Tissot höchstpersönlich in Môtiers seine Aufwartung macht. Sein Werk ist nicht nur in alle europäischen Sprachen übersetzt, als Bürger von Lausanne wird seine Stimme auch in Genf gehört, und zwar nicht nur, was Fragen der Selbstbefleckung anbelangt.
Kurz bevor die Postkutsche mit ihm eintrifft, zieht Jean-Jacques sich noch einmal ins Bett zurück, um es ein letztes Mal zu tun. Danach wird er für immer davon erlöst sein. Nur dass es eben ein allerletztes Mal sein muss, und sei es als eine Art Erinnerung daran, was ihn jahrzehntelang tagtäglich gequält hat. Im Grunde hat Jean-Jacques stets heimlich gehofft, es gebe keine wissenschaftlichen Beweise dafür, dass Onanie Selbstmord auf Raten ist. Doch alles, was Doktor Tissot auf Hunderten von Seiten beschreibt, muss er seit langem an sich selbst beobachten: Arthritis, Ausschläge und Schlaflosigkeit, Ödeme, Asthma und Hustenattacken, Schwermut, Schwindsucht und Magenkrämpfe, Appetitlosigkeit, Nasenjucken und hysterische Anfälle.
Manchmal wünscht er sich, dieses Buch besser nicht gelesen zu haben, denn dann wüsste er auch nicht, dass sein Tod bald bevorsteht. Andererseits ist er froh, es zu kennen, denn die Schreckensbilder der dort geschilderten Selbstbefriedigerinnen lassen ihn seither nicht mehr in Ruhe. Am liebsten würde er Doktor Tissot darum bitten, einmal von ihm ans Siechbett solcher Frauen mitgenommen zu werden, die davon gar nicht mehr genug bekommen konnten. Gern würde er sehen, wie sie es selbst kurz vor ihrem Tod noch nicht lassen können und ihnen dabei die Gesichtszüge entgleiten, ihre Lippen sich zinnoberrot verfärben, sie fürchterlich die Augen rollen und ihre Grimassen von einem Wahnsinn künden, wie Jean-Jacques ihn noch nie an einer Frau erlebt hat.
Leider kann Doktor Tissot, wie sich dann bei ihrer Begegnung herausstellt, ihm den Gefallen nicht tun, ihm solche Frauen vorzuführen. Als er ihm gegenübersitzt, fragt Jean-Jacques sich ständig, ob dieser Mann sein Lebenswerk deshalb dieser Seuche gewidmet hat, weil er selbst von ihr infiziert ist. Die hervorquellenden Augen, seine schmalen Oberlippen und das markante Kinn lassen auf etwas Zwanghaftes schließen, ohne dass man sagen könnte, ob es darin besteht, dass er jede entsprechende Regung abwehrt, oder ob es vielmehr von der Verzweiflung kündet, ihrer nicht Herr zu werden.
Einig jedenfalls sind die beiden sich in der nunmehr wissenschaftlich bewiesenen Gewissheit, dass das zügellose Rom am Übermaß weiblichen und männlichen Masturbierens zugrunde gegangen ist, und zwar deshalb, weil dabei alle nur noch krankhaft an sich selbst gedacht haben.
Inzwischen verlässt Thérèse unter einem strahlenden Himmel Paris, begleitet von einem Pfarrer und zwei Männern, die sie, kaum dass die Pferde lostraben, begrapschen. Dass ein Hochwürden unter ihnen sitzt, stört sie nicht, ganz im Gegenteil. Während man die Seine entlangfährt, die Vögel zwitschern und der Kutscher von nichts etwas mitzubekommen scheint, laufen an Thérèse, die nur damit beschäftigt ist, sich nicht die Kleider vom Leib reißen zu lassen, die Tränen hinab. Bittet der Pfarrer die beiden Unholde um etwas mehr Anstand, bringt das die beiden nur umso mehr in Fahrt.
Als man abends die Pferde ausspannt, verlangt der Pfarrer an der Poststation, diese zwei auf keinen Fall mit ihnen weiterreisen zu lassen. Am nächsten Morgen sitzen sie mucksmäuschenstill in der Kutsche, so lange jedenfalls, bis der Pfarrer um die Mittagszeit zu dösen anfängt und bald so fürchterlich schnarcht, dass man Salutschüsse neben ihm abfeuern könnte. Als er aufwacht, sitzt Thérèse schluchzend neben ihm. Die beiden grinsen und sind wieder so still wie am Morgen.
Als man am Abend wieder die Pferde ausspannt, will Thérèse beim Pfarrer im Zimmer schlafen, was Hochwürden ihr aber bei allem Mitgefühl niemals erlauben kann. Dass die beiden ihr einen Besuch in der Nacht angekündigt haben, findet auch er schlimm, doch seiner christlichen Nächstenliebe sind durch sein Gelübde enge Grenzen gesetzt.
Nach dem Abendessen versperrt Thérèse ihm den Weg zu seinem Gemach und erklärt: Ich bin die Gouvernante von Rousseau. Der Pfarrer weiß nicht, ob er das Kreuz schlagen oder sich glücklich schätzen soll, und verspricht, die ganze Nacht vor ihrer Tür in einem Sessel zu wachen.
So geht es drei Tage und drei Nächte, bis die Reise von Hochwürden in Dijon zu Ende ist und er Rousseaus Gouvernante für ihren weiteren Weg
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