Wintzenried: Roman (German Edition)
verlässt er mitten in der Nacht das Haus, kommt eine halbe Stunde später wieder zurück, steht am Fenster, zündet Kerzen an, löscht sie wieder, ständig hin und her, und liegt, weil die Nacht ihm keine Ruhe lässt, dann bis zum Mittag im Bett. Arbeiten kann er nicht mehr, außer an Liebesbriefen, die er für einen Roman erfindet und einem Paar andichtet, das in einem kleinen Dorf am Fuße der Alpen lebt. Vom Zittern der Feder ist dabei die Rede und von heiligen Flammen, von Stürmen des Herzens, überschäumenden Sturzbächen und einem Glück, so groß, dass man glücklicher wäre, es nie gekostet zu haben, um nicht Tag und Nacht von der Angst gemartert zu werden, es in jedem Augenblick wieder verlieren zu können.
Hätte ich nur meinen ersten Blick vermieden, lässt er den Verliebten klagen, dürfte ich noch Herr meiner Vernunft sein, meine Pflichten erfüllen und mein ödes Leben mit Tugend zieren. Doch mein Auge erkühnte sich, das zu betrachten, was es nie hätte sehen sollen. Eitle Träume, Wahnsinn der Wünsche, Wirren und Qualen! Was ist nur aus all meinen Plänen geworden?!
Wie getrieben läuft Jean-Jacques täglich tausendmal ums Schloss herum und möchte sich am liebsten mit der ganzen Natur vereinigen, um dann wieder den Himmel zu verfluchen, dass er keinen Frieden mit sich mehr finden kann, voller Jauchzen, zum ersten Mal im Leben ein solches Jauchzen in sich zu spüren, und voller Furcht zugleich, das alles könnten nichts als Schimären sein. So gehen die Tage dahin und die Stunden, bis auf einmal wieder eine Kutsche vorfährt, aus der sie steigt.
In einem Hain unter einem Akazienbaum beim Vollmondschein, umgeben von Gebüsch und Gesträuch, treffen sie sich abseits der Welt, am Busen der Natur, auf einer Bank, die wie für Liebende gemacht ist. Jean-Jacques gerät sofort derart außer sich, dass Sophie sich seiner erwehren muss. Während die beiden dann in keuschem Abstand zum Schloss zurückwandeln, vertraut Sophie ihm an, heimlich Gedichte zu schreiben. Vortragen will sie ihm aber keines, aus Angst, belächelt zu werden, und sei es nur insgeheim. Sie sei ja noch jung, sagt sie wie zu ihrer Entschuldigung, was Jean-Jacques aber vor allem so versteht, dass er für sie viel zu alt ist.
Und Saint-Lambert?, fragt er, beinahe entrüstet, ganz unvermittelt.
Ach ja, sagt sie ein bisschen verquält. Was Jean-Jacques wie einen kleinen Triumph empfindet.
Dass sie jetzt immer weniger kichert, will ihm wie ein Geständnis vorkommen. Nur weiß er nicht, ob es für ihn ein Glück oder der Anfang eines Abschieds ist.
Am nächsten Morgen steht er in ihrem Schlafgemach, leise zitternd wie damals in Turin, wo er im Spiegel entdeckt wurde, niederkniete, die Hände wie zum Gebet erhob und stumm um Gnade flehte. Auch Sophie droht, um Hilfe zu rufen, und behauptet, Grimm sei im Zimmer nebenan. Wieso Grimm?, fragt er, und sie beide fangen an zu lachen.
Jedes Glück, behauptet Sophie, bedürfe auch ein wenig der Vernunft. Jean-Jacques widerspricht ihr nicht, hat aber das Gefühl, sie borge sich solche Weisheiten vor allem aus Büchern.
Er glaubt, sie beschützen zu müssen. Sie vor dem Leben bewahren zu können. Um ihrer selbst willen. Um ihrer Reinheit wegen. Um der Welt widerstehen zu können und all dem, was Sophie sich selbst entfremdet. Er weiß, wovon er redet. Umso weniger sollen es andere erleben. Am allerwenigsten sie. Er mag es, wenn sie Sätze sagt, durch die Gedanken schimmern, die größer scheinen, als sie vielleicht sind. Die man verstehen kann und gleichzeitig nicht ganz versteht. Worte, die einen in Wallung bringen. Noch heute würde er mit ihr aufbrechen, egal wohin. Dann hätte man endlich alles hinter sich.
Unerträglich sind nur die Stunden, in denen sie nirgends zu finden ist. Am liebsten würde er ihr vorschreiben, sich bei ihm abzumelden, wenn sie meint, ein paar Tage in Paris sein zu müssen. Wirklich wahnsinnig aber könnte ihn machen, dass sie jedes Mal, wenn es zu Berührungen kommt, von Saint-Lambert zu reden anfängt. Er darf sie umarmen, sogar küssen, doch wenn es fast so weit ist, redet sie immer von ihm. Oder sagt: Ich bin doch noch ein Kind. Ein Kind, das ihn mit Aphorismen beleidigt, die es für Weisheiten hält. Leute wie er seien nur ins Verliebtsein verliebt, hatte sie sogar eines Tages behauptet. Ein Gerede, das man in den Salons lernt. Das sich klug vorkommt. Das alles zerstört.
Inzwischen behauptet ganz Paris, dass er nicht mehr bei sich ist. Madame d’Epinay hat
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