Wintzenried: Roman (German Edition)
Geschrei der Käuzchen und Eulen die Nächte gespenstisch macht.
Jean-Jacques aber schreibt ihr aus der Schweiz, das Leben hier sei einsam und für jemanden wie sie nicht geschaffen. Der Brief schließt mit dem Satz, es wäre nichts schöner, als bei ihr zu sein, doch rät er ihr dringend ab, ihm nachzureisen.
Wochenlang ändert sich an dieser Situation nichts. Bis in Môtiers Post von Madame de Luxembourg eintrifft, in der es heißt, Fräulein Levasseur rede so gut wie nichts mehr und sei überhaupt in einem jämmerlichen Zustand, er möge sie bitte zu sich nehmen, und zwar so schnell wie möglich. Dem Brief liegt ein Postskriptum von Thérèse bei, dem zu entnehmen ist, dass der Prinz von Conti und seine Mätresse, Madame de Boufflers, die er noch aus besseren Tagen kennt, bei ihr waren und voller Tränen alle Schränke durchsucht haben, in der vergeblichen Hoffnung, von ihm noch etwas zu finden.
Jean-Jacques ist außer sich und setzt sofort ein Schreiben an Madame de Luxembourg auf, in dem er ihr befiehlt, Thérèse unverzüglich in eine Kutsche zu setzen und ihr alles mitzugeben, was er in der Eremitage noch zurückgelassen hat.
Weil Jean-Jacques nichts zu tun hat, setzt er sich täglich vors Haus und klöppelt bunte Spitzenbänder, die er jungen Frauen schenkt. Die meisten wollen seine Geschenke nicht, doch er trägt sie ihnen hinterher und redet auf sie ein, nur bald zu heiraten und viele Kinder zu bekommen, jedoch auf keinen Fall eine Amme zu nehmen, sondern sie selbst zu stillen. Sollten sie seinen Rat befolgen, werde er ihnen immer neue Spitzenwäsche schenken.
Der Einzige, zu dem er Kontakt findet, ist der Pastor. Jean-Jacques besucht ihn immer öfter, nicht zuletzt wegen seiner Tochter. Ist der Vater gerade nicht da, so erklärt er ihr jedes Mal, mit siebzehn Jahren sei man reif für die Liebe. Um zu sehen, ob ihr seine selbstgemachten Hemdchen und Blusen wirklich passen, muss er sie immer wieder anfassen, auch an Stellen, wo sie sich ziert und manchmal beinahe aufschreit, worauf er ihr dann seinen Finger vor den Mund hält, während die andere Hand umso genauer prüft, an welchen Stellen man ihr seine Geschenke noch besser anpassen könnte. Nur ihr allein verrät er, dass es auf dem Weg zum Berg hinauf eine Grotte gibt, die so versteckt liegt, dass wahrscheinlich nicht einmal im Dorf jemand sie kennt. Wenn sie wolle, nehme er sie einmal mit. Dass er ohne sie nicht mehr leben kann, sagt er ihr auch immer wieder und vergießt dabei stets ein paar Tränen.
Weil die Siebzehnjährige selbst meist gar nichts sagt, schreibt er ihr eines Tages einen Brief, der aus lauter Klagen über das Alter besteht und in dem Vorwurf gipfelt, sie sei kokett. Jean-Jacques ist sich sicher, dass sie diesen Brief ihrem Vater nicht zu zeigen wagt. Er weiß, dass sie sich schuldig fühlt, ohne zu wissen, warum. Der Vater wiederum schüttelt jedes Mal den Kopf, wenn seine Tochter sofort bei Jean-Jacques’ Auftauchen das Haus verlässt. Noch nie hat er mit einem Menschen so schön über Gott, die Freiheit, die Natur und das Wahre reden können. Dass die Genfer nicht ein bisschen stolzer auf diesen großen Sohn ihrer Stadt sind, kann er nur schwer begreifen. Als guter calvinistischer Dorfpfarrer will er zwar nicht gegen die Genfer Theologen rebellieren, doch ist er überzeugt, dass sich alles wieder einrenken und die Zeit alle Wunden heilen wird. Sollte es dann einmal heißen, der Pastor von Môtiers habe sich dabei wie kein anderer als Vermittler erwiesen, könnte er gar in die Geschichtsbücher eingehen und dürfte sogar hier auf Erden ein wenig an der Ewigkeit teilhaben.
Da in diesem durch und durch friedlichen Ort tatsächlich keiner anklopft, der Noten kopiert haben will, ist Jean-Jacques nicht unglücklich, als sich allmählich herumspricht, wo er sich inzwischen aufhält. Dass er in Ruhe gelassen werden will, soll die Welt nach wie vor wissen, wozu es jedoch gelegentlicher Boten bedarf, die es ihr auch mitteilen. Obwohl er auf Besuch keinen Wert legt, sind ihm manche Gäste mehr als willkommen.
Das berühmte Werk über die Onanie des zwischen Rom und Paris überall berühmten Doktors Tissot aus Lausanne hat Jean-Jacques schon deshalb gleich nach seinem Erscheinen gelesen, weil er hoffte, sich dadurch von seiner Sucht endlich kurieren zu können. Auch wenn er es trotz der darin geschilderten Zersetzungsprozesse immer noch nicht geschafft hat, seiner Gier Einhalt zu gebieten, freut Jean-Jacques sich maßlos darüber,
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