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Wintzenried: Roman (German Edition)

Wintzenried: Roman (German Edition)

Titel: Wintzenried: Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Karl-Heinz Ott
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Richtung Genf eine eigene Kutsche bezahlt. Ihr Mann werde es ihm ewig danken, verspricht sie ihm beim Abschied, und verweist auf die Möglichkeit, dass er vielleicht sogar in seinen Memoiren Erwähnung finden wird.
    Jean-Jacques stellt Thérèse in Môtiers überall als seine Haushälterin vor. Entsprechend wird sie von den Leuten nicht wie eine ehrenwerte Bäuerin oder die Frau des Schmieds, sondern ein bisschen von oben herab und mit einer kaum verhohlenen Verachtung wie ein Putzweib gegrüßt. Nur der Pastor behandelt sie wie eine Dame und stellt ihr sonntags sogar seine Kutsche zur Verfügung, damit sie als gute Katholikin hinter der nahen Grenze, drüben in Frankreich, das Hochamt besuchen kann. Ein Vaterunser hat Thérèse zwar schon lange nicht mehr gebetet, da ihr aber der Pfarrer diesen Gefallen unbedingt tun will, geht sie jetzt zum ersten Mal in ihrem Leben regelmäßig in die Kirche.
    Inzwischen zieht es ganze Pilgerscharen in das abgelegene Dorf. Ständig stehen gelehrte Herrschaften aus Bern, Zürich und Genf vor der Tür, auch Prinzen und Baronessen bitten um eine Audienz, vor allem, wenn sie Kinder haben, die sie nach den Regeln des Emile zu größtmöglicher Natürlichkeit erziehen möchten. Nicht nur in Adelskreisen gilt Jean-Jacques mittlerweile als der bedeutendste aller Erziehungsexperten. Niemand kommt inzwischen mehr um ihn herum, der die Menschheit von Grund auf verbessern will.
    Manche würden ihn am liebsten als Erzieher ihrer Kinder zu sich ins Schloss holen und ihm ein Vermögen dafür geben. Nur ist Jean-Jacques der Meinung, dass es in einer falschen Welt keine richtige Erziehung geben kann, außer man lebte auf einer Insel. Entweder man existiert in vollkommener Abschottung und bricht jeden Kontakt zur Gesellschaft ab, oder man lässt es beim Alten und lebt weiterhin in der Lüge. Ein Drittes gibt es nicht, lautet seine immergleiche Antwort. Entweder die Welt, so wie sie ist, oder eine einsame Insel, auf der es außer dem Emile nur ein einziges Buch geben darf, den Robinson Crusoe . Es ist die einzige Geschichte, die Kinder, aus denen wahre Menschen werden sollen, noch lesen dürfen. Alles andere ist ihnen verboten. Es würde nur ihre Fantasie, ihre Seele, ihr ganzes Leben verderben.
    Selbst wenn sie keine Möglichkeit sehen, sich gänzlich von der Welt abzuschotten, sind nicht wenige Grafen und Baronessen von dieser Vision wie besessen. Ständig schreiben sie Jean-Jacques Briefe, wollen tausend Ratschläge von ihm bekommen und tausend Kleinigkeiten von ihm wissen, vom Geschlechtsverkehr während der Schwangerschaft bis zu allerlei Fragen des Stillens und Wickelns. Und weil Jean-Jacques so viel Post von adligen Herrschaften beantworten muss, bleibt ihm für jene einfachen Leute, die er in seinen Schriften verherrlicht, überhaupt keine Zeit mehr.
    Eines Tages erreicht ihn auch ein Brief des Prinzen von Württemberg. Nach kurzer militärischer Laufbahn, heißt es dort, habe er sich mit Anfang dreißig an den Genfer See zurückgezogen, wo er Kontakt mit Voltaire pflege, den er jedoch sofort abzubrechen gedenke, falls Rousseau mit ihm zu korrespondieren anfange, worüber er sich überglücklich schätzen würde, da er von ihm alles wissen wolle, was die Erziehung seiner Kinder nach den Prinzipien der Natur angehe. Gerade habe seine Gattin eine kleine Prinzessin zur Welt gebracht, die sie beide, ganz nach dem Vorbild der Geliebten des Emile, Sophie getauft hätten.
    Jean-Jacques schreibt zurück, ihm bleibe keine Zeit, sich auch noch dieses Falles anzunehmen.
    Daraufhin trifft erneut ein Brief des Prinzen ein, in dem er ihm verspricht, das Bildungswesen in Württemberg ganz und gar nach seinen Prinzipien auszurichten, sollte er dort Herzog werden. Worauf Jean-Jacques seine Post umfassend zu beantworten beginnt, sich zu seinem Ratgeber in allen Lebenslagen macht und von Môtiers aus über die Erziehung seiner Kinder wacht.
    Allerdings setzt die Korrespondenz anfangs mit ein paar Schwierigkeiten ein, da Jean-Jacques entschieden dagegen ist, dass Sophie von ihren Eltern erzogen wird. Bereits in seinem Emile , schreibt er dem Prinzen, habe er ein für alle Mal geklärt, dass Kinder nicht in die Obhut der Eltern gehören, und in diesem Zusammenhang auf Platons idealen Staat verwiesen, in dem alle Kinder den Eltern sofort nach der Geburt weggenommen und in eigens dafür vorgesehene Einrichtungen gebracht würden. Alles andere nämlich würde bedeuten, dass sich in der Welt sonst rein gar nichts

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