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Wintzenried: Roman (German Edition)

Wintzenried: Roman (German Edition)

Titel: Wintzenried: Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Karl-Heinz Ott
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die Herzogin stets die Feder in der Hand, damit ihr solche Gedanken nie wieder entschwinden. Manchmal muss er einen Satz auch zwei-, dreimal wiederholen, wie etwa folgenden: Das Bild der Natur bietet nur Harmonie, das des Menschengeschlechts nur Wirrnis! Oder: Der Mensch wird frei geboren, und überall liegt er in Ketten! Auch der Herzog nickt dabei immer zufrieden. Leider kann er wegen seiner militärischen Pflichten an Jean-Jacques’ häuslichen Lesungen viel zu selten teilnehmen.
    Weil solche wichtigen Werke sich nicht in zwei Tagen schreiben lassen, muss die Rückkehr nach Genf warten. Solange man im Paradies wohnt, eilt auch nichts. Aus einem halben Jahr wird ein ganzes, aus einem ganzen werden zwei, aus zwei drei, bis die beiden dicken Bücher endlich erscheinen.
    Eines der beiden würde Jean-Jacques gern der Stadt Genf widmen, damit von nun an nicht mehr er den Genfern dankbar sein muss, sondern sie ihm. Doch anstatt sich geehrt zu fühlen, wollen sie zuerst einmal prüfen, ob sie auch mit allem, was darin zu finden ist, einverstanden sind. Und während sie noch am Prüfen sind, meldet sich bereits der Erzbischof von Paris zu Wort, für den diese Schriften nichts als Pamphlete sind, die er durch das Pariser Parlament beschlagnahmen lässt. Ihr Urheber, so wird beschlossen, hat wegen seines Aufrufs zur Zersetzung der öffentlichen und göttlichen Ordnung in Frankreich nichts mehr zu suchen.
    Thérèse will nicht schon wieder umziehen müssen und schreit ihren Mann an, ob er es nicht endlich lassen kann, mit Gott und der Welt Streit anzufangen.
    Jetzt bin ich endgültig berühmt, schreit er zurück, so berühmt, wie man gar nicht mehr berühmter werden kann!
    Ich will nicht mehr, fängt Thérèse zu heulen an.
    Wir gehen endlich nach Genf, besser hätte es nicht kommen können.
    Ich will nicht nach Genf, wimmert Thérèse.
    Sie zwingen uns, dahin zu fliehen, wo wir sowieso hinwollen, tobt Jean-Jacques vor wütender Freude. Schöner könnte Schande nicht sein!
    Die Herzogin von Luxemburg weiß inzwischen nicht mehr, welcher Meinung sie sein soll. Sie hatte immer alles so wunderbar gefunden, was Jean-Jacques ihr vorgelesen hat. Und jetzt soll das alles auf einmal falsch sein.
    Inzwischen lassen sogar die Enzyklopädisten ihm wieder Grüße ausrichten. Selbst Saint-Lambert gratuliert ihm. Holbach hat immer gewusst, dass Jean-Jacques im Grunde auf der richtigen Seite steht. Diderot lässt ihn wissen, dass er viel an ihn denkt.
    Jean-Jacques pfeift auf ihre guten Wünsche. Sie können ihm gestohlen bleiben, diese Leute. Er weiß, wo er hingehört. Die Herzogin hat ihm bereits eine Kutsche bereitgestellt. Es war ein Fehler, nicht längst nach Genf zurückgekehrt zu sein. Dort kommt er her, dort gehört er hin. Notfalls ohne Thérèse. Was soll er noch hier, in der Nähe von Paris, dem verkommensten Ort der Welt? Im Grunde muss er dem Erzbischof dankbar sein, auch wenn es ungeheuerlich ist, was sich die Franzosen mit ihm, dem Bürger aus Genf, zu erlauben wagen. Ein Volk von Barbaren, die sich für gebildet halten. Seine besten Jahre hat er bei diesen Leuten vergeudet.
    Als die Pferde angespannt sind, er Thérèse ein letztes Mal baldige Post verspricht und schon zu winken anfängt, kommt ein Diener mit der Nachricht aus dem Schloss gerannt, dass man in Genf seine Bücher verbrennt und er die Schweiz nicht mehr betreten darf.
    Frankreich muss er in wenigen Tagen verlassen haben.
    Man rät ihm, an den Hof Friedrichs des Großen oder nach England zu gehen, dorthin, wo jeder denken und sagen kann, wonach ihm gerade ist, und wo auch Voltaire schon war, als man ihn hier nicht mehr haben wollte.
    Doch lieber würde er sich umbringen, als auf den Spuren dieses Hundes zu wandeln. Wer denn sonst als Voltaire sollte hinter all dem stecken?! Die Genfer machen jetzt einen Kotau vor ihm. Eine Stadt, die sich selbst verraten hat. Ein Volk, das keinen Stolz mehr kennt. Eine Priesterbande, nicht besser als die katholische Horde.
    Auch wenn ihn dort jetzt alle hassen, will er heim zu seinen Seen und Bergen.
    Auf der Fahrt Richtung Genf schreibt er Voltaire einen Brief. Seinen letzten Brief an ihn. Und seinen kürzesten.
    Mein Herr, schreibt er, ich mag Sie nicht. Sie haben mir schlimmste Leiden bereitet. Sie haben Genf verdorben zum Lohn für die Zuflucht, die Sie dort fanden. Sie haben mir meine Mitbürger entfremdet. Sie machen mir den Aufenthalt in meiner Heimat unerträglich. Sie wollen mich in einem fremden Land sterben sehen,

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