Wintzenried: Roman (German Edition)
können.
Hören Sie, mein Herr, ich bin krank und wahrlich nicht in dem Zustand, Besuch zu empfangen, kommen Sie ein andermal, ruft Jean-Jacques nun dazwischen.
Wann?, will Boswell wissen.
Jean-Jacques sagt: Morgen zum Mittagessen. Von zwölf bis drei.
Lange bevor das Angelus geläutet wird und die Gerüche dampfender Schüsseln durch die Straßen wehen, steht am nächsten Morgen schon Boswell vor der Tür. Weil Jean-Jacques ihn nicht gleich wieder nach Neuchâtel zurückschicken will, wo er im Haus von Lord Marischal logiert, lässt er ihn herein.
Wie dunkel es hier ist, bemerkt Boswell, als die beiden die Treppe hinaufsteigen. Dunkel und kühl, mitten im Sommer.
Wollen wir ein bisschen im Zimmer auf und ab gehen?, fragt Jean-Jacques.
Ja, stimmt Boswell zu.
Ich gehe immer auf und ab, manchmal stundenlang, erklärt Jean-Jacques.
Ich gehe bei mir auch immer wieder auf und ab, sagt Boswell. Schön haben Sie es hier.
Im Gehen denkt es sich leichter, sagt Jean-Jacques. Sie dürfen sich aber ruhig auch setzen.
Ich gehe mit, erklärt Boswell. Trau keinem Gedanken, der nicht beim Gehen entstanden ist, sage ich immer.
Die beiden gehen vom Fenster zur Tür und wieder zum Fenster zurück, hin und her. Man hört nur die knarrenden Dielen, das leise Rauschen des Kaftans und des schottischen Beinkleids. Hin und wieder setzt Boswell eine Runde aus und schaut aus dem Fenster auf die Gasse zu den Hühnern, Gänsen und Kindern hinab.
Was haben Sie?, fragt Boswell.
Jean-Jacques antwortet nicht.
Ich meine, welche Krankheit?
Die Franzosen sind ein furchtbares Volk, sagt Jean-Jacques.
Was halten Sie von den Spaniern?, fragt Boswell.
Die Spanier haben noch Größe, antwortet er.
Wir Schotten auch, meint Boswell. Nur hätten wir uns niemals mit den Engländern vereinigen dürfen. Niemals!
Ich habe die Engländer in meinem Emile Barbaren genannt, Sie haben es sicherlich gelesen. Barbaren von alters her.
Exakt, ruft Boswell und fragt nochmals, welche Krankheit er denn habe.
Alle Ärzte sind Pfuscher, sagt Jean-Jacques.
In Schottland auch, bestätigt Boswell.
Wieder hört man eine Weile nur das Knarren der Dielen und das Rascheln der Kleider.
Die Leute hier mögen Sie nicht, bemerkt Boswell auf einmal.
Jean-Jacques reagiert nicht.
Ein altes Weib hat mich angeschaut, als würde ich vom Leibhaftigen reden, als ich es nach Ihrem Haus gefragt habe.
Jean-Jacques geht auf und ab, als hätte er nichts gehört.
Ich wäre glücklich, so viele Bücher wie Sie geschrieben zu haben, unterbricht Boswell irgendwann wieder die Stille.
Ich hätte keines von ihnen schreiben sollen. Sie sind mein Unglück, erwidert Jean-Jacques.
Ich würde alles dafür geben, wären sie von mir, gibt Boswell sich entrüstet.
Danken Sie Gott, dass es nicht so ist, Sie würden Ihres Lebens nicht mehr froh. Der schlimmste Verbrecher der Geschichte ist Gutenberg. Nur eine Welt ohne Bücher wäre eine bessere Welt.
Sie haben auch welche geschrieben!
Ich schreibe sie nur, um zu beweisen, dass Bücher unser Verderben sind.
Sie mussten aber doch zuerst einmal viele Bücher lesen, um welche schreiben zu können, wendet Boswell ein.
Jean-Jacques schweigt.
Die Menschen lieben Bücher, sagt Boswell nach einer Weile. Wie sollten wir unsere Geschichte kennen, wenn es keine Bücher darüber gäbe?
Wer aus der Geschichte etwas lernen will, ist verloren. Wahre Natur kennt keine Geschichte. Die Wahrheit an sich kennt keine Geschichte.
Eine solche Wahrheit ist eine Kuh, die keine Milch gibt, versucht Boswell ein bisschen aufzutrumpfen.
Sie gehen wieder eine Weile stumm auf und ab, bis Jean-Jacques bemerkt: Meine Haushälterin sagt immer, du bist nur zu ertragen, wenn eine Woche lang kein Mensch bei dir war. Nur kommt das nie vor. Ständig stehen Leute vor der Tür. Und was wollen sie? Komplimente machen. Sagen, dass ich unsterblich bin und sonstigen Unsinn.
Ihre Mamsell hält Sie unter Verschluss wie im Einmachglas, klopft Boswell ihm auf die Schulter.
Ich habe eine Geheimtür.
Es ist romantisch bei Ihnen.
Wissen Sie, fragt Jean-Jacques, dass ich dieses Wort erfunden habe?
Welches?
Romantisch. Es kommt in meinem Liebesroman vor.
Warum schreiben Sie einen Roman, wenn Gutenberg der größte Verbrecher ist?
Um der Welt vorzuführen, wohin Romane führen.
Bald wird die ganze Welt von Romantik sprechen. Sie sind tatsächlich unsterblich.
Man wird sehen.
Thérèse ruft zum Essen. Auf dem Tisch stehen eine Schüssel Suppe mit Rindfleisch, ein Teller
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