Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Wintzenried: Roman (German Edition)

Wintzenried: Roman (German Edition)

Titel: Wintzenried: Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Karl-Heinz Ott
Vom Netzwerk:
allmählich wieder marinierte Forellen und Kalbfleisch mit Steckrüben essen kann, erreicht ihn ein Brief von einer Frau, die sich Henriette nennt, jedoch ihren Nachnamen verschweigt.
    Ich habe Ihre Schriften studiert, heißt es darin, vor allem den Emile , in dem Frauen das Stricken und Kochen zugewiesen und ihnen verboten wird, sich um die Philosophie, die Wissenschaften und Künste zu kümmern. Weder bin ich sehr jung noch sehr schön und auch nicht sehr gebildet, doch fürchte ich, einen Männerkopf zu besitzen, der mich zu Dingen drängt, die in Ihren Augen der weiblichen Natur zuwider sind. Deklassiert durch den Bankrott meines Vaters, vom Schicksal wenig begünstigt, allein und ohne Mittel, um in Gesellschaft eine gute Figur zu machen, überlege ich, aufs Land zu ziehen, zusammen mit ein paar Leuten, die wie ich bescheiden leben möchten. Weil aber mein Geist am Verdursten ist und von nirgendwoher Nahrung bekommt, möchte ich von Ihnen wissen, ob ich heiraten soll. Sollte ich dann ein Mädchen zur Welt bringen, würde ich es allerdings nicht nach dem Vorbild Ihrer Sophie, sondern wie Emile erziehen. Von Büchern kann ich nicht lassen und träume sogar davon, in der literarischen Welt noch einmal eine Rolle zu spielen.
    Jean-Jacques macht dieser Brief ganz unruhig, weil er fürchtet, es könnte sich um eine Falle handeln oder eine Berühmtheit dahinterstecken. Um es herauszubekommen, setzt er sich mit allen nur erdenklichen Leuten in Verbindung, von denen ihm aber keiner weiterhelfen kann. Auf die Gefahr hin, nur seine Zeit zu vergeuden, greift er zur Feder, um einen weiteren Brief von ihr zu bekommen und dadurch vielleicht mehr über sie zu erfahren.
    Kümmern Sie sich nicht um die Meinung anderer Leute, schreibt er ihr, auch wenn Sie, wie ich jeder Ihrer Zeilen entnehme, vor der Welt glänzen und gern wie eine Philosophin erscheinen würden. Doch es ist besser, eine junge Frau zu bleiben, die auf einen Bräutigam wartet, als gescheit sein und beweihräuchert werden zu wollen. Frauen können niemals werden wie Männer und wollen sich mit ihrem angelesenen Wissen bloß wichtigmachen und Gehör verschaffen. Sie achten nur darauf, wie andere sie sehen, statt auf ihre Natur zu hören, die ihnen Bescheidenheit und Gehorsam abverlangt. Ihr ganzer Brief beweist mir, dass Sie es nur darauf abgesehen haben, in den Augen der anderen vorteilhaft dazustehen, was bedeutet, dass Sie sich längst von Ihrem wahren Wesen entfremdet haben, anstatt Halt in sich selbst zu suchen und in Eintracht mit sich zu leben. Suchen Sie die Wahrheit in Ihrem Inneren, wenn Sie nicht elendig enden wollen. Bleiben Sie dort, wo die Natur Ihnen in der Kette der Wesen Ihren Platz zugewiesen hat. Rebellieren Sie nicht gegen das Gesetz der Notwendigkeit und zehren Sie Ihre Kräfte nicht im Widerstand gegen ein Leben auf, das Ihnen der Himmel zugewiesen hat. Sie sind zu weit gegangen, müssen sich jetzt selbst heilen und Ihre Natürlichkeit wiedererlangen. Oder wollen Sie sich weiter mit Philosophie zerstreuen? Ich will, dass Sie sich davon vollkommen frei machen und zu sich selbst zurückkehren. Seien Sie versichert, dass Sie erst dann zufrieden sein können, wenn Sie es nicht anderen recht machen wollen, sondern nach anderen überhaupt kein Verlangen mehr haben. Nur so können Sie einen friedvollen Schlaf finden und morgens selig aufwachen.
    Zum Schluss zitiert er eine Stelle aus seinem Emile , die lautet: Ich liebe ein schlichtes Mädchen hundertmal mehr als ein gelehrtes Weib, das sein Heim am liebsten in ein Gerichtsgebäude über Literatur verwandeln und sich selbst zu dessen Präsidentin ernennen möchte. Eine schöngeistige Frau ist eine Plage für ihren Gatten, ihre Kinder, ihre Freunde, ihre Bediensteten und die ganze Welt.
    Henriette schreibt zurück: Ohne Literatur und Bildung möchte ich mein Leben nicht verbringen.
    Aufgebracht antwortet Jean-Jacques: Dann tun Sie, was Sie wollen, ich kann Ihnen nicht mehr helfen.
    Worauf ein weiterer Brief von ihr eintrifft, in dem es heißt: Sie haben mich nicht richtig verstanden, denn ich stehe durchaus mit beiden Beinen im Leben. Weder will ich hoch hinaus noch etwas darstellen, auch bin ich mit keinen klugen Leuten zusammen, denen ich etwas beweisen müsste. Anders als Sie meinen, besteht meine Qual auch nicht darin, dass ich zu wenig fühle, sondern dass ich zu wenig denke. Ständig befinde ich mich in seelischer Unruhe.
    Jean-Jacques antwortet: Sie sind mir ein Rätsel. Mögen Sie bald Ruhe in

Weitere Kostenlose Bücher