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Wintzenried: Roman (German Edition)

Wintzenried: Roman (German Edition)

Titel: Wintzenried: Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Karl-Heinz Ott
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mit marinierten Forellen, eine Schale mit Kalbfleisch und Steckrüben, eine weitere mit Möhren und Schweinebraten, ein Teller mit entkernten Birnen und Kastanien und zwei Flaschen Rot- und Weißwein.
    Während der Suppe will Boswell wissen, was Jean-Jacques von Keuschheit, Selbstkasteiung und solchen Sachen hält.
    Mummenschanz, sagt Jean-Jacques.
    Ich würde gern einmal mit zweiundsiebzig Huris schlafen, sagt Boswell. Mit allen zusammen, in einer einzigen Nacht. Haben Sie auch solche Fantasien?
    Schweigen am Tisch. Man hört nur das Klappern von Löffeln und Schlürf- und Schluckgeräusche. Boswell schaut abwechselnd ihn und sie an, als verstünde er nicht ganz, warum die beiden nur noch auf ihre Teller blicken.
    Würde keine Frau hier sitzen, könnte ich Ihnen einiges dazu sagen, antwortet Jean-Jacques nach einer Weile.
    Ich werde in ein Kloster gehen, behauptet Boswell, dann werden Sie nie mehr von mir hören.
    Man geht nicht in ein Kloster, nur weil man mit seinem Leben nichts anfangen kann, weist Jean-Jacques ihn zurecht.
    Als es draußen zu nieseln anfängt, sagt Jean-Jacques: Sehen Sie, auf dem Land sorgt bereits ein kleiner Regen für Zerstreuung, in der Stadt muss man dafür gleich in die Oper gehen.
    Boswell sagt: Eigentlich bin ich ein Despot. Aber ein leutseliger. Im Übrigen könnte ich Ihr Gesandter auf Korsika werden, in dem Land, für das Sie sich gerade, wie ich von Lord Marischal erfahren habe, eine Verfassung ausdenken.  
    Despoten taugen nicht als Gesandte, sagt Jean-Jacques. Mögen Sie Katzen?
    Boswell schüttelt den Kopf.
    Alle Despoten mögen keine Katzen. Sie mögen sie nicht, weil Katzen sich nicht wie Hunde dressieren lassen. Man kann ihnen nichts befehlen.
    Hühnern auch nicht, meint Boswell.
    Das stimmt nicht, widerspricht Jean-Jacques. Hühner würden gehorchen, wenn sie einen verstehen könnten. Die Katze dagegen versteht einen, tut aber so, als hörte sie nicht, was man ihr sagt.
    Katzen, sagt Boswell, sind falsch und undankbar.
    Katzen sind anhänglich, aber nur, wenn sie wollen, entgegnet Jean-Jacques.
    Auf einmal fragt Thérèse: Besuchen Sie auch Voltaire?
    Aber gewiss, sagt Boswell. Kennen Sie sein Philosophisches Wörterbuch ?
    Jean-Jacques nickt.
    Was halten Sie davon?
    Nichts. Und jetzt gehen Sie.
    Wir haben ausgemacht, dass ich bis drei bleibe.
    Ich muss arbeiten.
    Fünfundzwanzig Minuten bekommen wir noch hin, insistiert Boswell. Ich könnte sie Ihnen aber auch schenken. Was gäben Sie mir dafür?
    Was Leute wie Sie einem nicht nehmen, sehen sie gleich als Geschenk an.
    Liebste Thérèse, legen Sie ein Wort für mich ein!
    Ich sage Ihnen, wenn es drei schlägt, antwortet Thérèse.
    Sagen Sie mir, wie ich leben soll, fordert Boswell noch von Jean-Jacques.
    Das müssen Sie selbst wissen. Und jetzt gehen Sie.
    Ich könnte Sie nachäffen, mein guter Jean-Jacques, aber ich lasse es. Ich kann alle Leute nachäffen. Keiner kann das besser als ich. Aber ich äffe Sie jetzt nicht nach, obwohl es so leicht wäre.
    Dann sitzen die drei noch stumm um den Tisch, bis es drei schlägt. Unter der Tür umarmt Jean-Jacques seinen Gast überschwänglich, küsst und drückt ihn und will gar nicht mehr von ihm lassen. Nie werde ich Sie vergessen, schluchzt er. Sie haben mir große Freude gemacht. Sie sind ein Lump, aber ich mag Sie.
    Boswell reißt sich ein Haar aus, gibt es ihm und sagt zu Thérèse: Wir sehen uns wieder.
    Nach Boswells Abreise lässt Jean-Jacques einen Notar kommen und ein neues Testament aufsetzen, weil er wieder fürchtet, nicht mehr lange zu leben. Bauchkrämpfe haben ihn ins Bett gezwungen, und aus Angst, dass alles nur noch schlimmer wird, isst er seit Tagen nichts mehr. Thérèse hat es mit Tees und Süppchen versucht, doch Jean-Jacques wollte das Übel von Grund auf austrocknen und deshalb auch keine Flüssigkeit mehr zu sich nehmen. Einen Doktor durfte sie nicht rufen, weil er selbst die Ursache seines Übels nur zu gut kennt und weiß, dass allenfalls Doktor Tissot ihm noch helfen könnte, nach dessen Besuch er es immer noch nicht lassen konnte. Wäre der Notar nicht wegen seiner dürren, ausgetrockneten, fast nicht mehr vorhandenen Stimme entsetzt und aufs höchste beängstigt gewesen, und hätte er nicht eigenmächtig in Neuchâtel einen Doktor nach ihm schicken lassen, wäre die Sache tatsächlich ernst geworden. In das Testament muss der Notar den Satz aufnehmen: Im Falle meines Ablebens möge sich der hiesige Burgherr um Thérèse kümmern.
    Als Jean-Jacques

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