Wintzenried: Roman (German Edition)
sich selbst finden.
Worauf sie schreibt: Je mehr ich darüber nachdenke, desto mehr komme ich zu dem Schluss, dass das wahre Glück nicht darin bestehen kann, sich in sich selbst einzuschließen, denn so viel Eigenes besitzt man gar nicht, und ein solches Glück würde uns gegenüber den Dingen nur dumpf machen. Mir scheint, dass eine Seele keineswegs dazu gemacht ist, nur sich selbst zu genügen und sich selbst zu lieben.
Jean-Jacques will sich nicht weiterhin beleidigen lassen und versucht, den Namen Henriette so schnell wie möglich zu vergessen.
Eines Abends, als Jean-Jacques und Thérèse schon im Bett liegen, werden ums Haus herum Stimmen laut. Auf einmal klirrt etwas, und man hört Leute schreien: Haut ab, ihr Schweine! In der Küche gehen Fensterscheiben zu Bruch, der Garten ist bereits verwüstet. Mit Hacken und Mistgabeln fuchtelt das halbe Dorf in der Luft herum. Thérèse zittert, Jean-Jacques verrammelt die Türen.
Schon länger geht das Gerücht um, man wolle die zwei loswerden. Manche haben sie von Anfang an nicht gegrüßt, andere wechseln erst seit ein paar Wochen die Straßenseite, wenn sie die beiden von weitem sehen. Sie alle wollen, dass der Mann mit dem Kaftan endlich aufhört, den Mädchen mit selbstgeklöppelten Westchen und Blusen nachzusteigen, und dass er mit seiner Hure für immer verschwindet.
Der Pastor versucht zwischen der Meute und seinem Freund zu vermitteln, erfährt dann aber, dass Jean-Jacques auch hinter seiner eigenen Tochter schon her war. Vom Antichrist ist nun sogar die Rede und davon, dass Unheil über das ganze Land kommt, sollte dieser Mann noch länger bleiben. Manche würden ihn am liebsten auf der Stelle erschießen.
Jean-Jacques weiß nur zu gut, warum er in seiner Schrift über den Gesellschaftsvertrag immer wieder betont hat, dass das Volk nicht weiß, was ihm wirklich guttut, und einen Führer braucht. Auch wenn das Volk an sich gut ist, muss man es vor sich selbst schützen, da es das Gute von sich aus selten erkennen kann.
Bei seiner Ankunft in Môtiers hatte er sich geschworen, an diesem ländlich stillen Ort zu sterben. Jetzt, da ihm die Bauern das Haus zertrümmern, ist er sich sicher, dass Voltaire hinter allem steckt, der von seinem Schloss herab die halbe Schweiz im Blick hat und sie nach seinem Willen zuzurichten gedenkt. Zuerst hat er sich den Klerus in Genf gefügig gemacht, und wenn es so weitergeht, wird ihm bald das ganze Land gehorchen.
An seinen Verleger DuPeyrou in Neuchâtel schreibt Jean-Jacques: Der Prophet hat im eigenen Lande noch nie etwas gegolten, und deshalb muss ich es als Ehre empfinden, von meinem eigenen Volk so behandelt zu werden. Dennoch frage ich mich, warum ich ausgerechnet unter Menschen geboren werden musste, obwohl ich einer ganz anderen Gattung angehöre. Ich bin darauf gefasst, für die Sache der Gerechtigkeit zu leiden. Die Vorsehung wird ihren Sieg feiern. Alles hat seine Bedeutung. Ich bin mit Sokrates und Jesus der Dritte im Bunde. Was auch der Prinz von Württemberg sagt.
Lord Marischal erfüllt Jean-Jacques den Wunsch, auf die Sankt Petersinsel im Bieler See flüchten zu dürfen. Dort will er freiwillig wie ein Gefangener leben und sich wie Robinson Crusoe fühlen. Denn alles Übel beginnt damit, schrieb er schon in seinem Emile , dass die Menschen sich zusammenrotten und nicht allein bleiben können. Bereits die Dörfer sind Vorboten der Städte und tragen den Keim von Babel in sich. Mit nichts als dem Plätschern des Wassers, dem Schrei des Adlers, dem Gezwitscher der Vögel und dem Rauschen der Bäume um sich herum kann Jean-Jacques sich nun vereint mit Himmel und Erde fühlen, fern jener Menschheit, die, seit er auf der Welt ist, danach giert, ihm seine Unschuld zu nehmen und ihn von sich selbst zu entfremden. Eine glückseligere Verbannung kann es nicht geben.
Auf seiner Insel wird er einen Garten anlegen und von seiner eigenen Hände Arbeit leben, ohne je wieder einen Bewohner der übrigen Welt ertragen zu müssen, befreit von all den Begierden, die nur im Zusammensein mit anderen aufkeimen und der Seele ihre Ruhe rauben. Sollte man ihm eines Tages aber auch den Frieden dieser Insel verwehren, möchte er lieber in der Bastille oder sonst einem finsteren Verlies den Rest seiner Tage verbringen, als jemals wieder unter Menschen leben zu müssen.
Sollte die Welt glauben, mich gefangen zu halten, schreibt er an DuPeyrou, so täuscht sie sich. In Wahrheit schenkt sie mir damit die schönste Freiheit, deren
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