Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Wintzenried: Roman (German Edition)

Wintzenried: Roman (German Edition)

Titel: Wintzenried: Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Karl-Heinz Ott
Vom Netzwerk:
ein irdisches Wesen sich erfreuen kann. Denn nun bin nicht mehr ich in ihrer Gewalt, sondern sie ist in der meinen. Einsam, ohne Freund, allein auf mich gestellt, bin ich erlöst von ihrer Zudringlichkeit.
    Kaum hat er in einem Gartenhäuschen auf der Petersinsel seine paar Habseligkeiten ausgepackt und seine Bücher in die Regale gestellt, kommt aus Bern der Befehl, diesen Ort sofort verlassen zu müssen oder andernfalls gefangen genommen zu werden. Auch Lord Marischal kann jetzt nichts mehr für ihn tun, zumindest nicht hier. Er kann nur noch seinen Freund David Hume, den schottischen Philosophen, bitten, sich um Jean-Jacques zu kümmern. In wenigen Wochen, wenn seine Zeit als Diplomat in Paris zu Ende geht, wird Hume wieder nach London zurückkehren. Es würde, schreibt Lord Marischal ihm, der englischen Krone gewiss zur Ehre gereichen, diesem hierzulande überall Verfolgten Exil zu gewähren. Allerdings sei dieser Mann, warnt er ihn auch, ein bisschen überspannt und nicht weniger sentimental.
    Hume schreibt unverzüglich zurück: England darf sich glücklich fühlen, einen solchen Mann bei sich aufzunehmen, auch wenn seine Erziehungslehre so absonderlich ist, dass man vermuten muss, er habe damit nur vorführen wollen, wie viel bizarre Fantasie er besitzt. England stehe es jedoch immer gut an, sich gerade dann als großzügig zu erweisen, wenn es auf dem Kontinent mit der Freiheit des Geistes nicht zum Besten bestellt sei.
    Als Lord Marischal ihm die Nachricht überbringt, dass der gute David Hume ihn persönlich nach London mitzunehmen gedenkt, greift Jean-Jacques sofort zur Feder und schreibt seinem neuen Freund: Sie sind der einzig wahre Philosoph, den ich kenne, der aufrichtigste Mensch der Welt. Ich verehre Sie schon immer. Ich weiß auch schon genau, wie Sie aussehen, der Herr Gouverneur hat Sie mir ganz genau geschildert.
    Er beschließt den Brief mit einem Zitat von Vergil: O sei gegrüßt, du mir vom Schicksal geschenkter Erdenfleck, hier ist mein Haus, hier ist mein Vaterland!
    Wie immer, wenn er ins Ungewisse aufbricht, macht Jean-Jacques sich ohne Thérèse auf den Weg. In Paris genießt er es noch einmal, in den Tuilerien von Menschentrauben umlagert zu werden. In seiner orientalischen Tracht erkennt ihn dort jedes Kind, nur dass bald auch schon die Polizei auf ihn aufmerksam wird, bei der man manchmal nicht genau weiß, ob sie ihm Geleitschutz bietet oder ihn verfolgt. Ein bisschen scheinen die Gendarmen selbst an Größe zu gewinnen, wenn sie diesen Mann halb eskortieren, halb überwachen.

X
    V or der Überfahrt nach England muss Jean-Jacques sich am Hafen mit Hume ein gemeinsames Zimmer nehmen. Er liegt die ganze Nacht wach. Hume hat im Schlaf gesagt: Jetzt habe ich ihn! Seither kriegt Jean-Jacques kein Auge mehr zu. Die ganze Welt ist hinter ihm her. Schweißgebadet liegt er in der frostigen Kammer, während der andere schnarcht. Auch Hume gehört also zum Komplott.
    Während der winterlichen Überfahrt nach Dover stürmt es, als ginge die Welt unter. Der dicke Hume ist gelb und grün im Gesicht, spuckt nur noch Galle und verkriecht sich. Auch von den Matrosen ist an Deck keiner mehr zu sehen. Nur Jean-Jacques steht, Wind und Wetter trotzend, die ganze Nacht mit seiner armenischen Pelzmütze in eisiger Kälte stramm an der Reling. Ständig spritzt ihm Gischt ins Gesicht, und sein Kaftan ist von oben bis unten durchnässt. Als das Postschiff schließlich in den englischen Hafen einläuft, fällt er Hume, der sich kaum auf den Beinen halten kann, um den Hals, küsst und drückt ihn und bricht in Tränen aus. Hume weiß nicht, wie ihm geschieht, wo er hinschauen und was er mit seinen Händen machen soll. Ihm ist schlecht, einfach nur schlecht.
    Weil Hume in so gut wie allen Pariser Salons nicht nur als großer Philosoph, sondern als wahres Naturereignis herumgereicht worden war, versucht Jean-Jacques auf den ruckelnden Kutschenfahrten immer wieder scheinbar beiläufig aus ihm herauszubekommen, was bei Holbach und Konsorten geredet wurde. Obwohl Hume wie ein strohdummer Bauer aussieht und vor allem aus Speck besteht, sollen die Damen sich darum gestritten haben, welche ihn als Erste empfangen darf. Wenn Hume in seiner ruhigen Art zu reden anfängt, hat man den Eindruck, als hätte sich der allerklarste Geist in den allerplumpesten Körper verirrt. Spricht man mit ihm, starrt er einen wie ein bisschen debil aus seinen prallen, wässrigen Augen an, die ihm beinahe aus dem Kopf zu kippen drohen.

Weitere Kostenlose Bücher