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Wintzenried: Roman (German Edition)

Wintzenried: Roman (German Edition)

Titel: Wintzenried: Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Karl-Heinz Ott
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Wüsste man es nicht besser, würde man hinter diesem gutmütigen Gesicht die reinste Dumpfheit und Dummheit vermuten, so aufgedunsen, wie es ist. Seit er ihm in Paris zum ersten Mal gegenüberstand, fragt Jean-Jacques sich, wie es überhaupt möglich sein kann, dass ein so fettes Wesen sich jemals einer Frau zu Füßen wirft oder sich gar mit ihr begattet.
    Holbach, so erzählt Hume, habe ihn ganz stolz mit der Bemerkung empfangen, fast jeder, der an seiner Tafel sitze, sei ein Atheist. Hume wundert es nicht, dass man ausgerechnet in Frankreich so häufig auf das Bedürfnis trifft, die eine dogmatische Wahrheit voller Eifer durch deren gegenteilige ersetzen zu müssen. Unter dieser Krankheit, meint er, litten vor allem Katholiken. Andererseits sei es bei den Franzosen aber auch nie langweilig, wenn sie bei Schnecken und Burgunderbraten mit Messer und Gabel herumfuchtelten und bei ihrem aufgekratzten Weltanschauungspalaver tatsächlich meinten, es ginge um Tod und Leben.
    Jean-Jacques kann dem natürlich nur zustimmen. Mit diesen Schwätzern will er schon lange nichts mehr zu tun haben. Nur ist er sich, je länger er darüber nachdenkt, nicht mehr ganz sicher, ob Hume ihn wirklich von diesen Leuten ausnimmt. Sollte er ihn richtig verstanden haben, so hat Hume nämlich behauptet, dass man genauso wenig, wie man etwas über die Existenz Gottes oder seine Nichtexistenz wissen kann, darüber etwas auszusagen vermag, was wahre Natur ist und was nicht. Auf dem Festland, so hat er diplomatisch bemerkt, neigten die Leute dazu, Ideen und Ansichten mit der Sache selbst zu verwechseln und zu vergessen, dass Vorstellungen nur Vorstellungen sind.
    Jean-Jacques fühlt sich zu müde, um auf solche Spitzfindigkeiten einzugehen. Im Übrigen wollte er mit Hume keinen Disput führen, sondern nur herauskriegen, welche Lügen die Holbach-Clique wieder einmal über ihn verbreitet.
    Gleich nach ihrer Ankunft in London schreibt Hume nach Paris: Mit Jean-Jacques könnte ich mein ganzes Leben verbringen. Uns beiden fehlt jede Fähigkeit zu streiten.
    Das Einzige, was Hume wundert, sind Jean-Jacques’ Klagen über seine miserable Gesundheit. Wer die ganze Nacht einem Orkan trotzt, während die Matrosen sich im Unterdeck verstecken und sich so gut wie alle Passagiere übergeben, muss eine Rossnatur haben, denkt Hume. Und deshalb bemerkt er in seinem Brief nach Paris: Mein Gast glaubt, äußerst schwächlich zu sein, dabei ist er einer der robustesten Männer, die mir je begegnet sind.
    Warum ihn in Paris alle vor Jean-Jacques gewarnt haben, bleibt ihm allerdings ein Rätsel. Sollte er ein bisschen schwierig sein, so will Hume den Franzosen nur umso lieber beweisen, dass sich mit Geduld so manche Sonderlichkeit ertragen lässt und man auch mit unausgeglichenen Geistern ein gutes Auskommen haben kann, sofern man nur mit ihnen umzugehen versteht.
    Die Engländer sind Barbaren, steht im Emile geschrieben. Jean-Jacques kann nur hoffen, dass Hume diese Stelle nicht gelesen hat. Falls er den Emile überhaupt gelesen hat. Vielleicht hat er ihn aber gelesen und redet nur deshalb nicht darüber, weil es darin diesen Satz gibt. Jean-Jacques überlegt, ob er ihm erklären soll, dass dieser Satz ganz anders gemeint ist. Doch dann entscheidet er sich dafür, den Emile am besten gar nicht zu erwähnen. Ich hätte gleich nach England gehen sollen, behauptet er Hume gegenüber. Schon immer habe er an England gedacht. Nur in England habe ein Robinson Crusoe entstehen können. England könne glücklich sein, dass es eine Insel ist. Abgeschieden und autonom. Durch ein Meer vom verrotteten Europa getrennt. Herrlicher könne man nicht isoliert sein. Auf Schweizer Boden wolle er nie wieder einen Fuß setzen. Calvin, so erklärt er Hume, würde sich im Grabe umdrehen, wüsste er, dass man in Genf Voltaire willkommen heiße, während man ihm, Jean-Jacques, dem berühmten Sohn der Stadt, das Bürgerrecht abspreche.
    Die Engländer sind Barbaren, sagt Hume auf einmal.
    Weil Jean-Jacques glaubt, er wolle ihn mit diesem Zitat aus dem Emile als Heuchler vorführen, beeilt er sich zu sagen, dass das ganz anders gemeint war. Er habe diesen Satz nur einer Figur in den Mund gelegt.
    Seinem Blick nach zu schließen, weiß Hume nicht im geringsten, wovon Jean-Jacques spricht.
    Die Engländer sind Barbaren, sagt er noch einmal. Schottland hätte sich niemals ergeben dürfen. Es könne ihm gar nicht schnell genug gehen, sich endlich in sein Schloss nach Edinburgh

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