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Wintzenried: Roman (German Edition)

Wintzenried: Roman (German Edition)

Titel: Wintzenried: Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Karl-Heinz Ott
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wie in Italien fühlen.
    Während der Marquis sich mit Jean-Jacques über nichts lieber als das Einfache und Reine, Unverfälschte und Wahre unterhält, vertreibt sich Thérèse, deren Anwesenheit dem Marquis etwas weniger gefällt, ihre Langeweile mit der Flasche und dem Stallknecht.
    Und dann, von heute auf morgen, ist Jean-Jacques tot.
    Fünf Wochen nach Voltaires Tod stirbt auch er. Nur knappe sechs Wochen durfte er noch in Girardins Paradies zubringen.
    Zwei Doktoren eilen herbei, der eine aus dem Dorf nebenan, der andere aus Paris. Man müsse eine Obduktion vornehmen, fordern sie. Der Marquis ist dagegen. Der Tote hätte das niemals gewollt, behauptet er.
    Woher er das wisse, fragt Thérèse etwas kleinlaut, worauf er meint, Jean-Jacques habe ihm das ausdrücklich gesagt.
    Jetzt erst sieht man, dass Thérèses Schürze blutig ist. Er sei gestürzt, sagt sie. Plötzlich gestürzt. Sie habe seinen Kopf auf ihren Schoß gelegt, er habe sie noch ein letztes Mal angeschaut und sie dann zur Alleinerbin eingesetzt.
    Girardin kann nur schwer verbergen, wie stolz er darauf ist, dass Jean-Jacques bei ihm gestorben ist. Sein letzter Wille sei es gewesen, hier auf der Pappelinsel seinen ewigen Frieden zu finden. Über nichts anderes habe er am Vorabend seines Dahinscheidens mit ihm geredet. Hier sei das Paradies, habe er immer wieder zu ihm gesagt, hier wolle er begraben werden.
    Sogleich will der Marquis eine Totenmaske von ihm machen und ihn dann einbalsamieren lassen. Ein Sarg wurde schon in Auftrag gegeben. Morgen soll die Beerdigung sein.
    Thérèse geht alles viel zu schnell. Täglich hat sie zu Jean-Jacques gesagt: Nimm dich vor diesem Marquis in Acht.
    Für die Totenmaske hat es noch gereicht, fürs Einbalsamieren nicht mehr. Tags darauf gleitet in sternklarer Vollmondnacht der Sarg auf einer Barke zur Pappelinsel hinüber, begleitet vom Marquis und vier Männern.
    Drüben an der Böschung, von wo die Barke abgelegt hat, steht als einzige Frau Thérèse unter lauter Bauern und Knechten, die in der einen Hand ihre Hüte, in der anderen Fackeln halten, deren Flammen ein wenig schaurig das waldige Ufer erhellen und sich im Wasser spiegeln. Vergeblich hat Thérèse darum gebeten, den letzten Weg mitgehen zu dürfen.
    Als der Sarg versenkt ist, bleibt der Marquis allein auf der Insel zurück. Er steht dort, reglos wie eine Statue, bis in den Morgen.
    Zurück im Schloss, lässt er einen Boten zum Pavillon hinüberschicken und Thérèse ausrichten, sie könne hier nicht länger bleiben.
    Als der Marquis Thérèse und ihren Stallknecht abends dabei erwischt, wie sie ganze Stapel von Papieren aus dem Haus schleppen, lässt er die Gendarmerie holen. Thérèse behauptet, das alles sei ihr Eigentum. Der Marquis nennt sie eine Diebin und Hure. Den Pavillon will er so lange bewachen lassen, bis sie verschwunden ist.
    Stimmen kommen auf, die von Selbstmord reden. Oder sogar von Mord. Man hat den Stallknecht im Visier und mit ihm Thérèse. Andere denken eher an den Marquis. Gründe, heißt es, gäbe es zur Genüge. Allein die vielen noch nicht veröffentlichten Manuskripte. Der Tote hätte steinreich sein können, erzählt man sich, hätte er sie nicht in seinen Schubladen versteckt. Er hätte sich wie Voltaire ein Schloss kaufen können, sagt man, wäre er nicht so sonderbar gewesen.

XIII
    D reizehn Jahre nach Jean-Jacques’ Tod, 1791, im Jahre Drei der neuen Zeitzählung, beschließt die Nationalversammlung, den Witwen solcher großen Männer, die sich ums Vaterland verdient gemacht haben, Unterstützung zukommen zu lassen. Der kirchliche Heiligenkalender ist inzwischen durch einen neuen ersetzt, mit dem der Wohltäter des Menschengeschlechts gedacht werden soll. Für Jean-Jacques ist der zweite April reserviert, an dem man fortan den Festtag der empfindsamen Seelen zu feiern gedenkt.
    Thérèse setzt einen Brief an die Nationalversammlung auf. Sein ganzes Leben lang habe sie an der Seite dieses großen Mannes gestanden, und jetzt müsse sie unter Verhältnissen leben, die eines Menschen nicht würdig seien.
    Wenn alles gutgeht, ist Thérèse bald die berühmteste Witwe ganz Frankreichs. Marat wird ihr vielleicht einen Lorbeerkranz aufsetzen und Robespierre eine Hymne auf sie anstimmen. Nichts wird mehr umsonst gewesen sein.
    Nur antwortet die Nationalversammlung nicht. Was vielleicht auch daran liegt, dass ihr Brief kaum zu entziffern ist. Weshalb sie noch einen zweiten schreibt.
    Nach einem halben Jahr kommt die Nachricht,

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