Wintzenried: Roman (German Edition)
Barbaren haben mir schon Böses genug zugefügt, doch noch nie von jemandem so Empfindsamem wie Ihnen. Mit den besten Wünschen, Jean-Jacques Rousseau.
Auf einem seiner Spazierwege durch Paris wird Jean-Jacques von einer dänischen Dogge niedergerissen, die neben einer Kutsche herrennt und nicht mehr bremsen, aber auch nicht mehr ausweichen kann. Um nicht von ihr umgerannt zu werden, hüpft er in die Höhe, in der Hoffnung, sie würde unter ihm hindurchrennen. Es macht seinen Sturz nur umso schlimmer. Er fällt mit dem Gesicht voraus, zerschlägt sich das Kinn, liegt am Boden und verliert das Bewusstsein. Erst als es schon Nacht ist, kommt er wieder zu sich und blickt zum gestirnten Himmel hinauf.
Ein paar Tage später liest er in der Zeitung, dass Rousseau tot ist. Selbst der König und die Königin sind schon darüber in Kenntnis gesetzt. Im Nachruf wird ihm vorgeworfen, mit seinen Talenten zeitlebens Missbrauch getrieben zu haben. Voltaire lässt verkünden, Rousseau habe gut daran getan zu sterben. Allerdings sei er nicht, wie zuerst berichtet, an den Wunden gestorben, die von seinem Genossen, dem Hund, stammten, sondern an den Folgen eines Gelages. Dennoch habe er sich wie ein Hund davongemacht.
Man begräbt mich, sagt er zu Thérèse, jetzt schon bei lebendigem Leib und spuckt mir auf den Sarg noch Frechheiten nach. Und als genügte es nicht, ihn für tot zu erklären, kommen ihm auch noch Gerüchte zu Ohren, wonach bereits eine Subskription auf seine noch nicht veröffentlichten Manuskripte ausgeschrieben worden ist, was nicht nur heißt, dass bald schon Schriften von ihm kursieren werden, die gar nicht von ihm sind, sondern was vor allem bedeutet, dass er jetzt nicht einmal mehr seinen Verlegern trauen kann. Endgültig hat sich die ganze Welt gegen ihn verschworen. Freunde hat er keine mehr. Jetzt kann er sich nur noch an Gott wenden.
So schnell es geht, schnürt Jean-Jacques seine Manuskripte zusammen, packt sie unter die Arme und hastet mit ihnen zu Notre-Dame hinüber. Er will sie dort auf dem Hochaltar niederlegen. Ein Priester wird sie finden und dem König übergeben. Nur noch diese beiden, Gott und der König, können seine Schriften vor Unheil bewahren.
Beim Betreten der Kathedrale muss er jedoch entdecken, dass ein Lettner den Altar vor der Gemeinde absperrt. Noch nie hat Jean-Jacques diesen Lettner gesehen, was bedeutet, dass er allein seinetwegen errichtet worden ist und auch Gott sich jetzt gegen ihn verschworen hat. Selbst vom Himmel verlassen und wie noch nie mutterseelenallein, stürzt Jean-Jacques zur Kirche hinaus.
Nach drei schlaflosen Tagen und Nächten setzt er sich zum ersten Mal wieder an den Küchentisch und schreibt Hunderte von Blättern mit den immer gleichen Sätzen voll. Ein letztes Mal muss er die Welt wissen lassen, dass er von der Welt nichts mehr wissen will. Wieder eilt er nach Notre-Dame hinüber, diesmal mit Flugschriften in der Hand, die er dort verteilt und in denen er an jene Franzosen appelliert, die noch ein Gefühl für Gerechtigkeit und Wahrheit besitzen, nicht auf die Stimmen seiner Verfolger zu hören, so mächtig sie auch sein mögen. Gott will, dass ich leide, er hat mich zum Märtyrer auserkoren, heißt es darin. Wenige Menschen haben in ihrem Leben so viel geseufzt wie ich, wenige auch so viel geweint. Ich war stets romantisch. Alles hatte seine Bedeutung. Überall war die Vorsehung am Werk.
Die Rue Platrière verlässt er nun kaum noch, und er ist froh, auf der Straße nicht selbst miterleben zu müssen, wie der greise Voltaire fürstlicher als jeder Kaiser in Paris empfangen wird. Vor einem halben Jahrhundert hat er Frankreich verlassen, und jetzt, bei seiner Rückkehr, jubelt das ganze Volk ihm zu. Wenn er in roter Robe und mit einer Perücke, wie der Sonnenkönig sie einst trug, im Triumphzug durch die Straßen gefahren wird, sollen selbst Adlige sich als Kellner verkleiden, um inmitten der Menschenmassen einen kurzen Blick auf ihn zu erhaschen, weiß Thérèse zu berichten.
Jean-Jacques muss, so schnell es geht, die Stadt verlassen. Für immer.
XII
D er Marquis von Girardin lässt Jean-Jacques in sein Schloss holen, das drei Stunden mit der Kutsche von Paris entfernt inmitten eines gewaltigen Parks liegt, den der Marquis mit aller Akribie nach den Ideallandschaften in Jean-Jacques’ Büchern entwerfen ließ. Aus Schottland hatte er dazu einen Gartenarchitekten kommen lassen, der über zweihundert Arbeiter befehligte, die weit ums Schloss herum
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