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Wintzenried: Roman (German Edition)

Wintzenried: Roman (German Edition)

Titel: Wintzenried: Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Karl-Heinz Ott
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von ihnen hält und über sie denkt, werden sie früh genug aus den Memoiren erfahren, an denen er seit einiger Zeit schreibt. Und er sorgt dafür, dass auch alle erfahren, dass sie bald erscheinen.
    Ansonsten kopiert er jetzt wieder Noten. Jeden Tag fünf, sechs Stunden. Und er hat einen neuen Freund gefunden. Einen jungen Mann mit Namen Jean, der einfach bei ihm anzuklopfen wagte und der Dichter werden will. Jean hat alles von ihm gelesen. Er kann ihn sogar verbessern, wenn Jean-Jacques aus seinen eigenen Werken einzelne Sätze nicht richtig zitiert. Die beiden gehen jeden Tag miteinander spazieren, bei jedem Wind und Wetter. Und wenn sie heimkommen, hat Thérèse eine Suppe, selbstgemachte Pasteten oder sogar einen Braten auf dem Tisch stehen. Jean bringt immer eine Flasche Wein mit, einen ganz schlichten. Alles andere würde Jean-Jacques sich verbitten. Auch Thérèse scheint es zu genießen, mit Jean-Jacques nicht mehr ständig allein sein zu müssen.
    Wenn Jean-Jacques abends aus seinen Memoiren vorliest, kann Jean es gar nicht fassen, wie hinterhältig diese ganze Pariser Gesellschaft ist, allen voran die Philosophen und adligen Damen, die unter dem Vorwand, sich den Künsten hinzugeben, jeden, der ihnen nicht passt, sofort vernichten. Für Jean, der noch viel vorhat, tun sich Abgründe auf. Doch er ist dankbar dafür, dass Jean-Jacques ihm die Augen öffnet. So ist er dagegen gewappnet, eigene Fehler zu begehen. Fehler, die Jean-Jacques begangen hat, obwohl es alles andere als Fehler waren. Fehler, die keine Fehler, sondern Tugenden sind. Man muss sich entscheiden, sagt Jean sich. Er hat das Gefühl, dass Entscheidungen glücklich machen.
    Mit jedem Tag ist Jean stolzer darauf, Jean-Jacques’ noch einziger Freund zu sein. Die Dinge, so sagt er sich, werden sich umso gnadenloser ins Gegenteil verkehren, je schneller die Welt erfährt, wie alles sich wirklich verhält. Er schlägt Jean-Jacques vor, die Welt lieber heute als morgen wissen zu lassen, wie sie ihn behandelt.
    Jean-Jacques versucht ihm zu erklären, dass er mit der Welt abgeschlossen hat. Andererseits gibt er ihm recht. Man kann nicht nur auf die Nachwelt vertrauen. Im Grunde eilt es. Und zwar sehr. Weshalb Jean-Jacques seinen jungen Freund auf einmal sogar drängt, dafür zu sorgen, dass die Marquise von Créqui eine erlesene Zuhörerschaft zu sich einlädt, der er seine Lebensgeschichte vorträgt.
    Mit der guten alten Marquise von Créqui gab es nie die geringste Missstimmung, obwohl Jean-Jacques sie seit seinen ersten Tagen in Paris kennt. Als er bei der Herzogin von Luxemburg auf dem Land lebte, schrieb er ihr: In der Stadt war ich ein Wilder, hier draußen in den Wäldern habe ich mich zivilisiert. Und als er ihr gleich nach seinem Erscheinen den Emile zukommen ließ, hatte die Marquise das Gefühl, als Mutter alles falsch gemacht zu haben. Allein die Tatsache, dass sie ihre Kinder gewickelt hat, schien sich im Nachhinein als Katastrophe zu entpuppen. Denn es steht im Emile geschrieben: In Ländern, wo Kinder gewickelt werden, hinken die Leute und bekommen Buckel, ganz zu schweigen von allen anderen Arten rachitischer Missbildungen. Zwar war davon bei ihren Töchtern und Söhnen wenig zu sehen, doch die Marquise musste von nun an fürchten, dass diese Verkrüppelungen noch in hohem Alter zutage treten. Trotz all dieser Schrecknisse macht sie aber immer den Eindruck, dass nichts sie erschüttern kann.
    Jean-Jacques lässt ihr durch Jean einen Brief überbringen, in dem es heißt: Bei Ihnen soll die Welt zum ersten Mal die ganze Wahrheit über mich erfahren.
    Eine Woche später sitzt Jean-Jacques an einem Tischchen mit vergoldeten Füßchen und blickt stumm wie eine Sphinx über die versammelte kleine Schar hinweg in endlose Fernen. Er hat einen gewaltigen Stapel mit Manuskripten vor sich liegen und trägt, wie schon seit Jahren nicht mehr, eine gepuderte Perücke. In sieben Tagen will er alles hinter sich haben, vorausgesetzt, man macht zwischen den Lesungen keine längeren Pausen. Als die Glocken neun schlagen und auf den Straßen das tägliche Treiben einsetzt, lauten seine ersten Sätze: Ich allein kenne die Menschen. Ich bin nicht wie einer von denen geschaffen, die ich je gesehen habe. Ich kam fast sterbend zur Welt. Meine Geburt war mein erstes Unglück.
    Die Lesung dauert, mit zwei kurzen Unterbrechungen, achtzehn Stunden. Als man um drei Uhr nachts auseinandergeht, verabredet man sich gleich wieder für den Morgen, um mit den

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