Wintzenried: Roman (German Edition)
man werde ihr Anliegen prüfen. Am Ende des Schreibens ist etwas von Hochachtung die Rede.
Allerdings fragen sich manche, ob ein solches Weib überhaupt Jean-Jacques’ Witwe sein kann. Vielleicht, heißt es, ist sie auch nur geldgierig. Ein Heiratsdokument besitzt sie jedenfalls nicht. Dass Rousseau ihr irgendwo hinter den sieben Bergen das Jawort gegeben haben soll, ist eine abenteuerliche Geschichte. Der Name des Bürgermeisters, der sie getraut haben soll, fällt ihr auch nicht mehr ein.
Durch den Marquis de Girardin weiß inzwischen die ganze Welt, dass sie es mit seinem Stallburschen getrieben hat, während Jean-Jacques im Sterben lag. Genau genommen hätten ihn diese beiden in den Selbstmord getrieben.
Eskortiert von ein paar Leuten aus dem Dorf, die den Marquis genauso wenig mögen wie sie, tritt Thérèse eines Tages vor die Nationalversammlung und überreicht ihr ein Manuskript. Der Anführer der kleinen Schar erklärt, es handle sich um Jean-Jacques’ Lebensgeschichte, und verlangt die Überführung der sterblichen Überreste dieses wichtigsten Wegbereiters der Revolution ins Pantheon.
Jean-Jacques, ruft daraufhin Robespierre der Nationalversammlung zu, war der Erzieher des Menschengeschlechts. Marat jedoch ist dagegen, dass Jean-Jacques bei den Unsterblichen aufgenommen wird. Es sei zu früh, schließlich sei die Revolution noch nicht zu Ende. Erst wenn tatsächlich Gleichheit herrsche, dürfe Jean-Jacques ins Pantheon einziehen, keinen Tag früher. Sonst könnte sich so mancher in dem fatalen Glauben wiegen, es sei bereits alles erreicht.
So geht es hin und her, ganze drei Jahre lang. Dann ist es so weit. Voltaire erwartet ihn dort schon.
Girardin tobt. Jean-Jacques gehört ihm und sonst niemandem. Keinen einzigen Knochensplitter will er hergeben, egal welche Unsummen ihm Reliquienjäger dafür auch gäben. Bei ihm sei Jean-Jacques zum ersten Mal im Leben glücklich gewesen. Nur bei ihm habe er erfahren, was Frieden bedeutet. Sein letzter Wille, beteuert der Marquis seit Jean-Jacques’ Tod unentwegt, sei es gewesen, für immer in seinem Park, an der Brust der Natur, auf seiner geliebten Pappelinsel zu ruhen. Schlimm genug, dass dieses Weib sich mit dem Stallknecht im Dorf nebenan eingenistet habe und seine Totenruhe störe. Sie müsse verschwinden, so schnell wie möglich, um nicht noch weiterhin das Andenken dieses großen Mannes besudeln zu können. Und was das Pantheon angehe, so habe der Tote von Paris nichts mehr wissen wollen. Hätte man ihm vorausgesagt, was die Revolution mit ihm vorhat, wäre er ans Ende der Welt geflohen. Über all das habe Jean-Jacques, sagt der Marquis, mit ihm am Vorabend seines Dahinscheidens bis weit in die Morgenstunden hinein geredet. Im Übrigen sei es eine Infamie, wenn diese Hure behaupte, er habe es auf Jean-Jacques’ noch nicht veröffentlichte Manuskripte abgesehen. Bereichern wolle sich damit nur eine, nämlich sie selbst.
In Paris heißt es, so unverhofft, wie Jean-Jacques gestorben sei, habe er gewiss keine langen Reden mehr führen und schon zweimal nicht wissen können, dass in zehn Jahren eine Revolution beginnt. Auch muss der Marquis sich vorhalten lassen, allein seiner Eile wegen, mit der er den Toten unter die Erde gebracht habe, wisse man bis heute nicht, ob es Mord, Selbstmord oder nur ein unglücklicher Sturz gewesen sei.
All dieser Anfeindungen zum Trotz wollen Girardins Erinnerungen sich täglich mit neuen letzten Worten füllen, die Jean-Jacques gesprochen haben will. Aus zwei, drei Sätzen werden ganze Abhandlungen, aus ein paar spärlichen, zwischen Leben und Tod hingehauchten Worten endlose Bekenntnisse. Es ist, als hätte Jean-Jacques sich kurz vor seinem Ende noch einmal geradezu entleeren müssen. Alles, was er ihm damals anvertraut habe, behauptet Girardin, sei unauslöschlich in sein Herz eingeschrieben. Von dieser Hexe jedenfalls sei in dieser Nacht mit keinem einzigen Wort die Rede gewesen. Wenn Monsieur Girardin ein paar Gläser getrunken hat, brüllt er: Ich bringe sie noch um, dieses Natterngezücht, das man festnehmen, foltern und zerquetschen müsste.
Testamente gibt es von Jean-Jacques eine ganze Menge. Am liebsten ließ er immer dann den Notar rufen, wenn er nichts zu vermachen hatte. Zum ersten Mal bei Mama, als er erblindet im Bett lag, weil die Flasche mit der Geheimtinte explodiert war. Später schickte er seinem Verleger ein Testament, in dem er sich bei seinen Freunden dafür entschuldigt, dass nichts für sie
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