Wintzenried: Roman (German Edition)
Geschichten rund ums Onanieren und um andere Obsessionen zügig voranzukommen. Auch von der Hure Zulietta ist die Rede und ihrer nicht vorhandenen Warze, ebenso von Sophie, ohne die er nicht mehr leben zu können glaubte, und vor allem von den vielen Gräfinnen und Baronessen, in deren Schlössern und Gartenhäuschen er hauste und deren Arglist und Heimtücke ihn zutiefst zu zerrütten drohte. Und er verschweigt auch nicht jene fünf Kinder, die er ins Findelhaus stecken musste, weil Thérèse sie sonst zu Vatermördern erzogen hätte.
Einige Plätze bleiben bei der zweiten Lesung frei, weil nicht alle Damen die Vorstellung ertragen können, dass derselbe Mann, der vor ihnen mit einer gepuderten Perücke sitzt, Dinge getan hat, bei denen einem schlecht werden könnte. Manche haben die achtzehn Stunden nur dadurch ausgehalten, dass sie ständig an etwas Schöneres zu denken versuchten, andere waren nicht unglücklich darüber, immer wieder eingeschlafen zu sein, wieder anderen war es unmöglich, diesem Mann noch in die Augen zu schauen. Einzig die Gastgeberin, Marquise de Créqui, saß die ganze Zeit in ihrer ausladenden adligen Altdamenpracht so reglos in der ersten Reihe, als wäre sie mit ihrem Sessel verwachsen. Mit ihrem unermüdlich geradeaus gerichteten Blick und einem Gesicht, das wie einbalsamiert schien, wusste man nicht, ob sie vollkommend abwesend war oder wie kein anderer auf jedes Wort lauschte.
Am dritten Morgen, als die Runde nochmals kleiner geworden ist, führen gleich zu Beginn zwei Gendarmen Jean-Jacques ab und bringen ihn zu Thérèse nach Hause zurück. Madame d’Epinay hat bei der Polizeipräfektur erreicht, dass er seine Verleumdungen gegen sie und ganz Paris nicht auch noch öffentlich verbreiten darf. Sie schäme sich dafür, lässt sie verlautbaren, mit einem so widerlichen Tier jemals Umgang gehabt zu haben.
Mit seinem neuen Freund Jean verbringt Jean-Jacques die Tage wieder in den Tuilerien oder spaziert mit ihm die Champs-Élysées auf und ab, wo sie immer gleich eine ganze Prozession hinter sich herziehen. Jean ist der einzige Mensch, mit dem Jean-Jacques noch reden kann. Selten hat man zwischen zwei Menschen so viel Einverständnis erlebt.
Eines Tages bringt Jean eine erste Probe seines schriftstellerischen Könnens mit, die er Jean-Jacques vorlesen will. Ihr Titel: Porträt eines Schurken.
Jean-Jacques fragt erstaunt: Gibt es denn keine anderen Gegenstände auf der Welt?
Das Theater ist voll davon, rechtfertigt sich Jean und ist froh, dass ihm das sofort eingefallen ist.
Über solche verkommenen Gestalten zu plaudern, wie sie bei Molière zuhauf auftauchen, hat Jean-Jacques längst keine Lust mehr und verweist den jungen Freund auf seinen berühmten Brief an d’Alembert , in dem alles gesagt ist.
Verzagt beginnt Jean vorzulesen. Von Harmlosigkeit ist die Rede und von Unberechenbarkeit und davon, dass man bei einem Schurken nie weiß, woran man ist, und er sogar der beste Freund sein kann, so lange jedenfalls, bis man eines Tages wie aus einem bösen Traum erwacht, sich die Augen reibt und wundert, warum man nicht schon früher klarer gesehen hat.
Mehr will Jean-Jacques nicht hören. Es sei eine Frechheit, ihm so etwas ins Gesicht zu sagen.
Jean stammelt etwas von Fantasie und Dichtung. Thérèse, die am Herd steht und in einem Topf rührt, weiß nicht, was hier vor sich geht, sieht aber, dass Jean-Jacques nach Luft ringt.
Jean bittet um Verzeihung, ohne zu wissen, wofür eigentlich, worauf Jean-Jacques die Tür aufreißt, ihn hinauswirft und stöhnt: Endlich allein!
Noch am selben Tag setzt er ein Billett an die Marquise de Créqui auf, mit dem er ihr die Nachricht zukommen lässt, sie nächste Woche besuchen zu wollen. Über einen Boten lässt die Marquise ihm die Bitte ausrichten, den Besuch noch ein wenig zu verschieben, da sie in der kommenden Woche überaus beschäftigt sei. Worauf Jean-Jacques ihr ein weiteres Billett zukommen lässt, in dem es heißt: Wenn ich bereit bin, jemandem einen Besuch abzustatten, so, um ihm eine Ehre zu erweisen und um dafür geehrt zu werden. Ich erweise ihm meine Hochachtung, wenn ich mich zu ihm begebe, und er erweist mir Hochachtung, indem er mich empfängt. Meint er mich bedauerlicherweise zurückweisen zu müssen, wozu er das Recht hat, öffnet er mir die Augen und erlöst mich von ihm. Ich begreife, Madame, dass die Mächte der Finsternis jetzt auch Sie erfasst haben, obwohl ich mehr für Sie als jeder andere getan habe. Die
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