Wintzenried: Roman (German Edition)
noch eine
schlechtgekämmte Perücke und einen klapprigen Alten.
Die Frauen, die auf Grimm und d’Alembert hereingefallen sind,
verraten den Mann, der sie am meisten verdient hätte.
Die Lenker der Völker, die auf meinen Schultern stehen,
möchten mich zum Verschwinden bringen,
weil ich nicht lebe wie sie.
Die Schriftsteller schreiben von mir ab und beschimpfen mich;
die Gauner verfluchen mich, die Kanaille buht mich nieder.
Die anständigen Leute, so es noch welche gibt,
beklagen zutiefst mein Schicksal;
ich dagegen, ich preise es,
wenn es eines Tages die Sterblichen aufklärt.
Voltaire, dem ich den Schlaf raube,
wird über diese Zeilen seine Witze reißen.
Seine groben Beleidigungen sind mir eine Ehre,
die er mir zwanghaft und wider Willen erweist.
Als Thérèse eintrifft, begrüßt er sie dann doch als seine Schwester und stellt sie allen als Mademoiselle Renou vor. Ein paar Tage später lädt er den Bürgermeister und dessen Vetter, einen Artillerieoffizier, zum Essen in sein Gemach ein.
Nach der Suppe bittet er sie in feierlichem Ton, nun Zeugen des bedeutendsten Ereignisses seines Lebens zu sein. Er nimmt Thérèses Hand, preist die fünfundzwanzig Jahre ihres Zusammenseins selig und gibt bekannt, sie hier und jetzt, in diesem Augenblick, heiraten zu wollen. Die Gäste sind erstaunt. Inzest ist nicht erlaubt. Jean-Jacques rückt das Missverständnis zurecht und erklärt, sie sei nur sehr weitläufig mit ihm verwandt. Im Stehen geben sie sich das Ja-Wort. Jean-Jacques beendet die Zeremonie mit den Worten: In dieser heiligen Stunde ist meine Schwester meine Frau geworden. Nichts wird sich dadurch zwischen uns ändern. Wir sind unzertrennlich. Unsere Liebe wird so rein und geschwisterlich bleiben wie seit dreizehn Jahren.
Thérèse setzt sich wieder. Jean-Jacques hebt zu einer Rede an. Es geht um Freuden und Pflichten, Natur und Tugend, Frau und Mann, Gott und das Gewissen, das Reine und Wahre, aber auch um Milch und Speise und Seele und Ehre, querbeet durcheinander, in unendlichen Zusammenhängen, so sehr, dass der Bürgermeister und der Artillerieoffizier bald gar nichts mehr verstehen, jedoch Tränen über ihre Wangen kullern und sie sogar schluchzen. Etwas verwirrt schauen sie erst wieder drein, als Jean-Jacques auf einmal sagt: Fräulein Renou ist jetzt meine Schwester Sara geworden, und ich bin ihr Bruder Abraham. Würden alle Hochzeiten wie die unsere mit einer fünfundzwanzigjährigen Vorbereitung stattfinden, wären die Paare sehr viel vereinter miteinander. Mit einer Schwester schläft man nicht. Sich mit der Mutter zu vereinigen ist etwas ganz anderes. Die Mutter steht über dem Gesetz.
Jean-Jacques trinkt sehr viel an diesem Abend und gibt am Ende noch zwei Lieder zum Besten, die er eigens für diesen Anlass komponiert hat.
Drei Tage nach der Hochzeit erwischt Jean-Jacques während eines Spaziergangs Thérèse mit einem Mönch am Bach. Den Mönch spuckt er an, Thérèse nimmt er an die Hand und geht mit ihr in die Herberge zurück. Eine Stunde später verlassen sie den Ort, an dem sie Hochzeit gefeiert haben. Von nun an heißt Jean-Jacques wieder Rousseau und seine entfernte Verwandte wieder Levasseur. In Lyon steigen sie in einem Hotel ab. Beim abendlichen Gang durch die Stadt wird ihm ein Blatt in die Hand gedrückt, mit dem für eine Voltaire-Statue gesammelt wird. Am nächsten Morgen fahren sie weiter Richtung Paris.
In der Rue Platrière, wo die beiden schon einmal wohnten, richten sie sich in einer winzigen Wohnung ein. Jean-Jacques’ Anwesenheit scheint hier inzwischen keinen mehr zu stören. In der Comédie Italienne hat er ab sofort freien Eintritt. Er spaziert durch den Bois de Boulogne, durch den Jardin du Luxembourg, über die Champs-Élysées. Die Leute schauen, laufen ihm immer noch nach und drängen sich in die Cafés, in denen er sitzt. Jeder erkennt ihn sofort an seinem Kaftan und der Pelzmütze. Als nach ein paar Wochen die Volksaufläufe bei seinem Erscheinen überhandnehmen, muss er sich auf Anordnung des Polizeipräfekten verpflichten, sich in der Öffentlichkeit nicht mehr in seiner armenischen Kostümierung zu zeigen.
Weder Diderot noch d’Alembert, noch Holbach und auch nicht Prinz Conti oder Madame d’Epinay fragen mehr nach ihm. Die Geschichte mit David Hume hat sich überall herumgesprochen, ebenso wie die Seltsamkeiten, die sich auf Schloss Trie ereignet haben. Jean-Jacques ist froh, mit all diesen Leuten nichts mehr zu tun haben zu müssen. Was er
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