Wintzenried: Roman (German Edition)
alle Wiesen und Wälder, Äcker und Felder in ursprüngliche Natur verwandeln mussten. Jeder Baum und jeder Strauch, jeder Tümpel und Teich wurde nach präzisen Plänen in eine schöne Wildnis verwandelt, mit Grotten, Hainen, Sümpfen und Fontänen, Wasserfällen, Seen, Eremitagen und antiken Ruinen. Weder ein reißender Fluss durfte fehlen noch ein Gebirgsbach, der zwischen kluftigen Felsen ins Tal hinabstürzt, und auch nicht ein Philosophentempel, dessen Säulen die größten Denker darstellen: Descartes, Montaigne und als einzig noch Lebenden Jean-Jacques. Voltaire, der hier auch verewigt ist, ist gerade in Paris gestorben. Die Leute sollen auf der Straße geweint haben, als sie von seinem Tod hörten.
Schon vor einigen Tagen hat der Marquis Jean-Jacques, gleichsam zur Vorbereitung auf sein zukünftiges Refugium, ein selbstverfasstes Werk mit dem Titel Über die Komposition von Landschaften zukommen lassen, in dem er erklärt, dass die Natur erst dann zu ihrer wahren Majestät finden kann, wenn sie den Gesetzen großer Gemälde gehorcht. Denn einzig Dichter und Maler, steht da geschrieben, könnten wissen, durch welche Myriaden von Details die Natur erst ihre wirkliche Schönheit entfalte und unsere Seele erhebe, wozu gehöre, dass Licht und Form und Farbe ein immerwährendes Clair-obscur ergeben, um jeden Tag von neuem und zu allen Jahreszeiten die ursprüngliche Harmonie der Schöpfung wiederzugebären. Dazu müsse sich alles organisch miteinander verbinden, der Gesang der Vögel, das Plätschern der Brunnen, das Summen der Bienen, das Schweigen der Zypressen, das Wispern der Blätter, das Murmeln der Bäche, das Tosen der Katarakte. Und um ein solches Landschaftsgemälde vollkommen zu machen, gehörten dazu auch Gräber großer Männer.
Bei seiner Ankunft steigt Jean-Jacques vor der rosenumflorten Toreinfahrt aus der Kutsche, geht zu Fuß drei Meilen weit zum Schloss hinauf und vergießt Tränen, als ihn der Marquis mit Gattin, Sohn und Tochter auf der obersten Treppenstufe des Schlosses erwartet. Thérèse ist mit der Kutsche längst angekommen und steht ein bisschen hilflos im Abseits. Sie wollte sich weigern, nochmals alle Sachen zu packen und die Stadt zu verlassen. Die Pracht dieser Natur scheint sie noch nicht zu beeindrucken, und von Dankbarkeit dafür, nun in einem solchen Paradies sein zu dürfen, ist ihr in diesem Augenblick wenig anzumerken.
Der Marquis drückt seinen Gast an sich und will ihn gar nicht mehr loslassen. Den Spaten in der einen, Ihren Emile in der anderen Hand, erklärt er ihm, habe ich diesen Garten angelegt. Dann sagt er noch etwas von Frieden, Melancholie und Unsterblichkeit, presst Jean-Jacques noch einmal an sich und weist ihm den Weg zu seinem neuen Domizil hinüber. Zwei Livrierte holen das Gepäck aus der Kutsche und geben Thérèse zu verstehen, dass sie ihnen folgen soll.
Ein paar Schritte vom Schloss entfernt steht ein Pavillon, der dem Gast so lange als Provisorium dient, bis das eigens für ihn entworfene Landhaus im Schweizer Stil fertiggestellt ist. Der Tempel, so kündigt Girardin an, sei fortan nur noch ihm gewidmet, alle anderen Dichter und Denker werde er in Bälde versetzen lassen.
Seine Tage lässt Jean-Jacques jetzt immer im Freien mit einem Sonnengebet beginnen. Wenn er danach mit Thérèse in der Laube sitzt und Kaffee trinkt, schauen die beiden auf einen Wasserfall und können zur Marquise hinüberwinken, die ebenfalls beim Frühstück sitzt und zu ihnen herüberwinkt. Ihr Mann hat sich hier draußen mit Anfang zwanzig zur Ruhe gesetzt, nachdem König Stanislas gestorben war, bei dem er in militärischen Diensten stand. Seither ist er damit beschäftigt, sein Paradies immer mehr zu verbessern. Dass der Autor des Emile nun dessen bedeutendster Teil ist, hat ihn seinem Ziel einen gewaltigen Schritt näher gebracht. Und so lässt der Marquis, wo immer sich eine Gelegenheit findet, die Welt auch wissen, dass sein Arkadien durch Jean-Jacques die allerhöchste Weihe erhält.
Manchmal redet der Marquis in der Stille des Parks stundenlang auf Jean-Jacques ein. Schauen Sie, schwärmt er ihm vor, wie wunderbar, mit seinem Spiegelbild vereint, der Schwan sich über den See gleiten lässt und wie wehmütig die Weiden sich zum Wasser neigen. Dort drüben im Eichenhain, empfiehlt er ihm, können Sie sich Ihren dunklen Gedanken hingeben, am moosigen Teich Ihre Einsamkeit genießen, im versteckten Hain Ihrer verflossenen Amouren gedenken und sich drüben bei den Pinien
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