Winzertochter (Contoli-Heinzgen-Krimi)
in ihre Jacke. Dabei entdeckte sie, dass er in der anderen Hand etwas in Alufolie eingepackt trug. Als er ihren Blick darauf bemerkte, lachte er und strich sich mit der freien Hand eine Strähne seines braunen, leicht gewellten Haares aus der Stirn.
„ Deine Augen blicken wie die einer hungrigen Wölfin. Ich habe dir ein Stück Kuchen mitgebracht. Frau Senge hat heute wieder hervorragend gebacken.“
Sie stiegen die Zeile hinauf bis zum Weg und setzten sich auf den Boden im Schutz der Weinreben. Mit Heißhunger verzehrte Leonie den Apfelkuchen. Außer zwei Broten hatte sie bisher nichts zu sich genommen, und es war schon Nachmittag. Thomas schien amüsiert über ihren Appetit.
„Da habe ich ja ins Schwarze getroffen.“
Ihr dankbares Lächeln saugte er mit einem merkwürdigen Gesichtsausdruck auf. Irritiert wandte sie ihren Blick ab.
„Du musst mehr essen, Leonie“, sorgte er sich.
Das stimmte. Seitdem sie Dirk verloren hatte, war das Bedürfnis nach Essen nicht mehr in ihren Alltag integriert. Sie vergaß es einfach. Und selbst, wenn ihr abends im Bett der Magen knurrte, verspürte sie keinen Appetit.
„Außerdem solltest du mehr ausgehen, dir einen Freund suchen, dich ablenken. Auch gegen den Willen deines Vaters. Er hat kein Recht, dich daran zu hindern. Du bist erwachsen.“
Leonie sah Thomas Broll erstaunt an. Wusste er von Dirk? Oder warum kam er jetzt ausgerechnet auf das Thema Freund? Wollte er sie aushorchen? Hatte er sie zusammen gesehen? Sie wollte nicht, dass jemand von Dirk wusste, niemand sollte sie mehr mit ihm in Verbindung bringen. Jetzt nicht mehr. Trotz ihres dichten geistigen Nebels hatte in letzter Zeit eine Perspektive Formen angenommen. Aber sie kämpfte noch dagegen an. Wenngleich sie auch wusste, dass sie nicht anders können würde. Sie machte sich nur vor, eine Wahl zu haben.
„ Und wenn ich keine Lust dazu habe?“
„ Das kann ich nicht glauben“, beteuerte er. „Du bist jung, du bist außergewöhnlich hübsch, das Leben hat mehr zu bieten als das, was dir hier oben begegnet.“
Leonie spürte ihren Po. Sie erhob sich vom harten Boden und rieb sich die Backen.
„Ich werd’s mir überlegen. Aber jetzt muss ich wieder an die Arbeit.“
Thomas richtete sich ebenfalls auf.
„Wenn du möchtest, gehen wir mal zusammen aus.“ Er grinste. „Natürlich heimlich, ohne Wissen deines Vaters.“
Sie zuckte verlegen mit den Schultern. „Auch das überlege ich mir.“
Damit drehte sie sich um und nahm vorsichtig die Schritte die Steillage herunter bis zu dem zuletzt bearbeiteten Weinstock.
Nur wenige Minuten schaffte sie es, weiter an Thomas Broll zu denken. Daran, wie er sie angesehen und ob er ihr damit hatte etwas sagen wollen. Zu frisch noch waren die Ereignisse um Dirk. Zu offen noch ihr Herz für den Schmerz des Verlustes.
Am nächsten Morgen begann der dritte Tag, an dem sie von Dirks bevorstehender Hochzeit wusste. Heute würde er eine andere heiraten. Leonie schlug die Augen auf und wusste nicht, wie sie die Zeit bis jetzt durchgestanden hatte. Heiße Tränen rollten ihr über die Wangen und befeuchteten das Kopfkissen. Sie fühlte sich schwer und müde und wunderte sich über die lähmende Gleichgültigkeit in ihr. Und darüber, dass sie trotzdem weinte. An der Intensität des Lichtes, welches durch die Ritzen der nicht völlig heruntergelassenen Jalousien in ihr Zimmer fiel, erkannte sie, dass heute von einem wolkenfreien Himmel die Sonne auf das Brautpaar scheinen würde. Sie hatte ihnen gestern Nacht, bevor sie einschlief, Regen, Blitz und Donner gewünscht. Ein Traumbild, eines von vielen der letzten Nacht, breitete sich vor ihrem geistigen Auge aus. Messerscharf sah sie, wie die Braut aus der Kirche hinaus in den Regen rannte. Verzweifelt versuchte, mit einer Hand ihren Schleier zu halten, der sich langsam löste und wie in Zeitlupe von ihrem Kopf in unnatürlich weiten Schwüngen auf den Boden segelte. Leonie schloss die Augen und seufzte. Würde sie es überhaupt bis zur Kirche schaffen? Noch ein wenig ruhen, entspannen, darauf einstellen, befahl sie sich und versuchte, gleichmäßig zu atmen. Ein, aus, ein aus. Ihre Tränen versiegten. Bei dem Gedanken an heute Nachmittag spürte sie, wie langsam Energie in ihr aufstieg und sich damit auch der Hunger meldete. Ein flaues Gefühl im Magen gab ihr zu verstehen, dass er nicht mehr weiter ins Leere arbeiten konnte und dringend etwas zu verdauen brauchte.
Die Ziffern der Nachttischuhr standen auf neun. Vater
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