Winzertochter (Contoli-Heinzgen-Krimi)
letzten Geistesstoß, der die Kniebank unter Getöse einige Male auf und ab krachen ließ. Dirk und seine Braut stürzten der Länge nach auf den Boden. Der Priester fasste sich entsetzt ans Herz und schickte seine aufgerissenen Augen gen Kirchenhimmel. Leonie fixierte den schweren, gusseisernen Kerzenständer. Nicht übertreiben, ermahnte sie sich. Aber das Vorhaben saß längst in ihrem Kopf. Entsetzt musste sie mit ansehen, wie es Wirklichkeit wurde. Sie verlor die Kontrolle über ihre gedankliche Macht. Es wurde zum Selbstläufer. Der gusseiserne Kerzenständer begann zu rotieren, als suche er sich seine Richtung und raste in dem Moment direkt in Dirk’s Rücken, als er sich mühsam wieder aufgerichtet hatte und seiner Frau ebenfalls dazu verhelfen wollte. Zurück! Stopp! Dirk sank in sich zusammen. Der mehrmalige dröhnende Widerhall des zu Boden knallenden Kerzenständers war das einzige Geräusch in dem Moment. Hatte er geschrien? Nein. Fassungslose Totenstille hüllte die Kirche ein. Das sprachlose Entsetzen lähmte für einige Sekunden die Hochzeitsgesellschaft. Kurz darauf brach das Chaos aus. Wie ein aufgescheuchter Ameisenhaufen liefen die Gäste durcheinander. Einige fassten sich dabei verzweifelt an den Kopf. Manche fielen übereinander. Andere wiederum rannten zum Altar, um zu helfen, wieder andere zum Ausgang. Der Priester hob ständig seine gefalteten Hände beschwörend gen Himmel und betete laut. Ein geistesgegenwärtiger Gast griff zum Handy. Die Braut, über Dirk gebeugt, schrie gellend um Hilfe. Aber unmittelbar darauf stürzte sie, wie Leonies es in ihrem Traum gesehen hatte, aus der Kirche und verlor dabei wehend ihren Schleier. Leonie entschwand durch das linke Seitenportal. Kaum war sie draußen, überfielen sie heftige, klopfende Kopfschmerzen. Der Regen prasselte in dichten Fäden hernieder. Ein spiralförmiger Blitz durchjagte die schwarzen Wolken und entlud sich in einer ohrenbetäubenden Detonation. Leonie schnappte nach Luft wie ein Fisch auf dem Trockenen, und genauso fühlte sie sich auch. Ihre Gedanken brachen in alle Richtungen auseinander. Nicht einen konnte sie greifen. Ihr Körper fühlte sich bleischwer an. Übelkeit überkam sie. Ihr Leib rebellierte. Sie schleppte sich völlig durchnässt mit letzter Kraft die wenigen Meter zu ihrem Auto. Noch bevor sie die Tür aufschließen konnte, pumpte ihr Magen in drängenden Schüben gegen ihre Kehle. Sie versuchte, ihren Mund zusammenzupressen, denn sie hasste es, sich übergeben zu müssen, aber schließlich siegte ihr Magen. Sie erbrach in spritzenden Fontänen, während der durchdringende Ton des Martinshorns durch die Luft zu ihr herüber wehte. Entkräftet stützte sie sich anschließend am Wagen ab. Sie hielt ihr Gesicht mit weit geöffnetem Mund in den Regen und versuchte, den beißenden sauren Geschmack in ihrem Mund wegzuspülen. Mit Mühe schloss sie die Wagentür auf, sank auf den Sitz, kreuzte die Arme übers Lenkrad, ließ ihren Kopf darauf nieder und schloss die Augen. Was habe ich getan? Was? Sie hatte es nicht mehr stoppen können. Die unheimliche grausame Macht in ihr hatte sich verselbstständigt. War ihr einfach entglitten. Anfangs hatte sie sich stark konzentrieren müssen, aber dann lief alles ohne Mühe. Sie hatte es nur andenken müssen und schon geschah es. Der Gedanke, es womöglich nicht mehr steuern zu können, brachte ihr Herz zum Rasen. Das heftige Pochen in ihrer Brust ließ sie gedanklich wieder zurück zu ihrem Körper finden. Das passierte also mit ihr, wenn sie sich länger darauf konzentrierte, ihre Macht in größere Aktionen umzuwandeln. Nicht nur eben mal einen Stein durch die Luft beförderte. Da hatte sie nur ein leichtes Klopfen hinter ihrer Stirn verspürt. Im Augenblick allerdings glaubte sie, ihre Schädeldecke würde explodieren und ihre Blutzirkulation habe die tosende Geschwindigkeit eines Wasserfalls, der ihr die Sinne zu nehmen schien. Sie versank völlig im Rauschen ihres Inneren.
Mit dem Gefühl, nur wenige Minuten seien vergangen, kam sie wieder zu sich. Als sie die Uhrzeit kontrollierte, stellte sie jedoch erschrocken fest, dass mehr als eine Stunde vergangen war. Oh Gott, es war fast vier Uhr. Thomas würde sicherlich warten. Er hatte schließlich wichtigere Aufgaben inne, als Wein zu verkaufen. Sie bemerkte, wie stickig es im Wagen war. Leonie drehte das Fenster herunter und atmete tief die einfließende frische Luft ein. Der Regen hatte aufgehört. Das Rauschen in ihrem
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