Winzertochter (Contoli-Heinzgen-Krimi)
Haus. „Meine Enkelin und mein Schwiegersohn sind oben“, erzählte sie mit weinerlicher Stimme. „Ich habe mir ein paar Tage frei genommen, ständig ist die Polizei hier. Ich verstehe das alles nicht. Was hat Helga getan, dass sie umgebracht wurde?“
„ Frau Küster, kann ich Ihnen ein paar Fragen stellen, ohne dass Sie ...?“
Lisabeth nickte. „Aber ich mach uns erst einen Tee.“
Anke zog es vor, nichts dagegen einzubringen und wartete geduldig im Wohnzimmer, bis Lisabeth mit dem Tee und zwei Gedecken erschien. Doch noch immer setzte sie sich nicht, sondern kramte aus dem Schrank eine Dose mit Plätzchen, die sie geöffnet auf den Tisch zum Tee stellte. Bei dem Duft der Plätzchen spürte Anke tatsächlich leichten Hunger. Das Mittagessen hatte sie vergessen, daher griff sie sogleich eines der Schokoladenplätzchen. Aufseufzend ließ sich Lisabeth auf das Sofa gegenüber fallen. „Fragen Sie. Der Kommissar hat mir schon erzählt, dass sich Helga mit Johannes Rosskamp getroffen hat. Genau zwei Tage vor ihrer Ermordung. Ich wusste gar nicht, dass der wieder zuhause ist.“ Anke schluckte hastig die restlichen Schokokrümel herunter. „Er ist erst vor einigen Tagen zurückgekommen. Jedenfalls scheint er gleich mit Helga Kontakt aufgenommen zu haben, aber leider wissen wir bis jetzt nicht, was der Anlass des Treffens gewesen war, da Johannes im Moment verschwunden ist.“
Lisabeth seufzte erneut. Sie kämpfte mit den Tränen.
„Frau Küster, das hört sich zwar jetzt dämlich an, aber wissen Sie, ob Ihre Tochter ein Tagebuch geführt hat?“
Lisabeth schaute sie zweifelnd an.
„ Hat sie ...?“, forschte Anke leicht un geduldig nach.
„ Ich habe sie nie ein Tagebuch schreiben sehen, wissen Sie, als Mutter kriegt man doch so was mit, oder?“
„ Nicht immer“, widersprach ihr Anke.
„ Helgas alte Sachen von damals liegen auf dem Dachboden“, meinte Lisabeth daraufhin nachdenklich. Bei den Worten wurde Anke von einer Sekunde zur anderen lebendig und musste sich beherrschen, ruhig zu bleiben. Schätze auf dem Dachboden, dachte sie, während sie sich zwang, genüsslich an dem heißen Tee zu schlürfen. Weiter überlegte sie, ob es dreist war zu fragen, ob sie die alten Sachen durchstöbern dürfe. Schließlich erkundigte sich Anke danach. Lisabeth erhob sich sofort. Als sie die Treppen hochstiegen, öffnete sich die Flurtür im ersten Stock. Das Gesicht eines verheulten Teenagers erschien, schniefte und verdrückte sich wieder hinter der Tür, die gleich darauf ins Schloss fiel.
„ Meine Enkelin steht völlig unter Schock. Sie wandelt wie betäubt durch die Gegend und Martin hat sich mit Herzschmerzen ins Bett gelegt. Der Arzt war auch schon da“, vertraute Lisabeth ihr an. Anke wollte im ersten Augenblick antworten, wie leid ihr es tat, aber stattdessen verfiel sie in ein erwartungsvolles Schweigen. Lisabeth griff nach dem langen Stock, der in einer ovalen Tonblumenvase, die in der Ecke stand, deponiert war und setzte zielsicher den Haken an seinem einen Ende in die dafür vorgesehene Öse der Dachbodenluke. Mit einem Ruck öffnete sie diese. Frau Küster klinkte die schmale Holztreppe aus der Verankerung und zog sie herunter, bis sie fest den Boden berührte. Lisabeth stapfte vorsichtig voran. Anke mit Herzklopfen hinterher. Oben sah es chaotisch aus. Die weiß-graue Innenverkleidung der Dachpfannen hing an vielen Stellen in Fetzen herunter, überall standen Kisten und Kartons. Lisabeth schob einige davon an die Seite, bis eine völlig verstaubte grüne Truhe zum Vorschein kam. Der gewölbte Deckel war mit gelben Blumen in naiver Malweise verziert. Lisabeth wischte mit dem Zipfel ihres Kittels den Staub vom vergoldeten Schnörkelgriff und zog den Deckel hoch. Beide starrten sie eine Weile auf das Durcheinander in der Kiste. Anke entdeckte sogar den Zipfel einer Kasperlepuppe, die unter den anderen Sachen verstaut war. Wie auf ein geheimes Kommando fuhren Anke und Lisabeths Hände gleichzeitig in die Kiste und legten Stück bei Stück zur Seite auf den staubigeren Dachboden.
„ Da wird wohl nichts sein“, meinte Lisabeth.
„ Sieht so aus.“ Zerknirscht zog Anke ein altrosa Karnevalskleid aus Tüll hervor. In der nächsten Sekunde jubelte sie innerlich auf. Mit hastigen Griffen holte sie das Büchlein mit dem dunkelroten Leineneinband hervor. „Das sieht aus wie ein Tagebuch“, murmelte Anke mehr zu sich selbst. Es war mit einem Goldrand versehen, auf dem deutliche Spuren einer regen
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