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Wir Genussarbeiter

Wir Genussarbeiter

Titel: Wir Genussarbeiter Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Svenja Flaßpoehler
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Kind
die Konstanz der bergenden, beschützenden und liebenden Kräfte, so gewinnt das Urvertrauen Übergewicht«, schreibt er in seinem Buch Über den Ehrgeiz . »Das heißt, der Mensch wird seiner selbst, seiner Liebenswürdigkeit, seines Eigenwertes an der Zuwendung der Bezugspersonen gewiß.« Wenn das Kind sich in den prägendsten Jahren aber zu wenig auf die Liebe der Eltern verlassen kann, entwickelt es Minderwertigkeitsgefühle und braucht, um diese zu unterdrücken, als erwachsener Mensch ständig Bestätigung: »Der Ehrgeizige ist weder seiner selbst noch der Verlässlichkeit der existenziellen Zustimmung der anderen sicher«, schreibt Buchkremer. »Wie das in seinem Bestätigungsbedürfnis letztlich nicht ganz befriedigte Kind reagiert er mit verstärkter Anstrengung, das Mangelerlebnis durch vermehrten Zuwendungs-›zwang‹ zu beheben.« Nach dem Motto, so der Philosoph: »Mögen sie mich hassen, wenn sie mich nur bewundernd lieben.« Der Erfolg hat die Funktion einer Maske, die das schambesetzte Minderwertigkeitsgefühl verdecken soll, was zur Folge hat, dass der Siegeswille nie nachlassen und die Erfolgssträhne nicht abreißen darf. Tut sie es doch, droht die Krise: Der Ehrgeizige fühlt sich bloßgestellt, erniedrigt, nichtswürdig, weil der tief empfundene Mangel plötzlich sichtbar wird.
    Auch Sigmund Freud sieht einen tiefen Zusammenhang zwischen gestörten frühkindlichen Objektbeziehungen und Ehrgeiz. So schreibt er in seiner Abhandlung Charakter und Analerotik den »unmäßigen ›brennenden‹ Ehrgeiz« vor allem den »einstigen Enuretiker[n]« zu. Enuretiker sind Bettnässer; Kinder, die auch nach dem vierten Lebensjahr ihre Blasenfunktion noch nicht unter Kontrolle haben. Psychoanalytisch betrachtet ist das Bettnässen ein masturbatorischer Akt: Indem das Kind sich den warmen Urin, der ein Äquivalent des Samens ist, die Beine herunterrinnen lässt, verschafft es
sich selbst das wohlig warme Gefühl, das die Eltern ihm nicht zu geben vermögen. Das Bettnässen ist somit, so unlustvoll es letztlich erlebt wird, immer auch eine Form phallischer Selbstermächtigung (die natürlich gleichwohl auch von Mädchen praktiziert werden kann): ›Wenn ihr mir die Wärme nicht gebt, verschaffe ich sie mir selbst!‹
    Im Erwachsenenalter nun tritt an die Stelle der Harnerotik der feurige Ehrgeiz: Nicht mehr durch Urin, sondern durch eigene Arbeit wird das wohlige Gefühl erzeugt – und wenn diese Verschiebung gelingt, ist dieses Gefühl tatsächlich auf Dauer lustbringend. Durch sein hartnäckiges, zielstrebiges, sorgfältiges Tätigsein verwandelt, sublimiert der einstige Enuretiker seinen Mangel in gesellschaftlich wertvolle Kulturarbeit, die ihm nicht nur ein illusorisches, sondern ein tiefes Selbstwertgefühl zu vermitteln vermag.
    Vor diesem Hintergrund wird deutlich, dass es einen produktiven, ja heilsamen Ehrgeiz durchaus geben kann: nämlich in Form einer Verwandlung, die aus einer kindlichen Angst eine erwachsene Lust macht, eine Lust am Besserwerden, am Noch-genauer-Sein, eine Lust am Veredeln des einst Schambesetzten. Diese Veredelung glückt, wenn der Ehrgeizige das Scham- und Minderwertigkeitsgefühl nicht durch die Arbeit niederzuhalten, zu verstecken versucht, sondern wenn er dieses Gefühl mit in die Arbeit hineinnimmt und es dort, das meint der Begriff der Sublimation, ›erhöht‹. In dem Maße, in dem die Arbeit an Gestalt und Schönheit gewinnt, gewinnt sie der Arbeitende auch, denn sein Mangel ist es, den er in seinem Tun im wahrsten Sinne verarbeitet. Ein solcher sublimierter Ehrgeiz richtetet sich nicht auf einen abstrakten Erfolg, für dessen Erlangung die Arbeit lediglich ein sinnentleertes Mittel ist, sondern vielmehr auf die Arbeit selbst: Gerungen wird nicht mit Konkurrenten, sondern mit Worten, mit dem Stoff,
dem Material, damit die Arbeit gelingt und auf den, der sie verrichtet hat, zurückstrahlt. Selbstverständlich braucht auch ein solches Tätigsein gesellschaftliche Anerkennung; doch dieses Brauchen hat nicht mehr den Charakter der Sucht, vielmehr handelt es sich um ein zutiefst menschliches Bedürfnis. Schon ein Kind malt ein Bild nicht einfach nur für sich, sondern, wenigstens im Geiste, für Andere, für Mutter und Vater; und je nachdem, wie diese das Bild würdigen, fühlt sich auch das Kind gewürdigt.
    Ein ›brennender‹ Ehrgeiz, der sich primär auf die Gestaltung der Arbeit anstatt auf äußere Ehre richtet, ist natürlich ebenfalls anstrengend und mitunter

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