Wir haben gar kein Auto...
anschauen, doch auf uns wartet noch der lange Weg nach Rott, und so entscheiden wir uns dagegen.
Wir biegen in den König-Ludwig-Weg ein, auf den unser Taschenführer hinweist. Er ist eine der bezauberndsten StraÃen, zugleich aber mit allen Eigenschaften ausgestattet, die ihn zu einer perfekten Strecke für Mountainbikes machen. Er führt nämlich über Asphalt, Schotter und steinige Saumpfade hinauf und wieder hinab, und es gibt sogar einen amüsanten Single-Trek. Was für ein Anblick: Eine gefällte alte Eiche am StraÃenrand und eine ehemalige Mühle lohnen allein schon die ganze Mühe!
In einem kleinen Dorf begegnen wir ein paar italienischen Wanderern, die nach Schondorf unterwegs sind und dem Münchener Jakobsweg folgen wollen. Ja, diese romantischen Wege, ebenso wie die gesamte wunderschöne Landschaft zwischen Ammersee und Lech, laden Radfahrer und Wanderer in eine echt beschauliche Idylle ein. Jutta und mir bleibt jedoch gerade mal Zeit für einen Kaffee, und schon heiÃt es wieder: »Los, wir schwingen uns auf die Räder.« Die Strecke wird allmählich beschwerlich für unsere »Hybridräder«, und wir lösen ein paar Tütchen Salz in unseren Feldflaschen auf. Angesichts der fortgeschrittenen Stunde entscheiden wir uns für eine schnelle und sichere Strecke und verlassen daher den König-Ludwig-Weg, um auf die HauptstraÃe einzubiegen, deren Belag entschieden besser ist.
Allmählich spüre ich die fünfundsechzig Kilometer, die wir bereits zurückgelegt haben, in den Beinen. Wir halten, um die Feldflaschen noch einmal zu füllen, und konsultieren die unverzichtbare Karte, um zu ergründen, in welche Richtung wir fahren müssen und, vor allem, wo wir am Abend bleiben werden, um zu essen und zu schlafen. Nachdem wir an einem Brunnen vorbeigefahren und einem Abschnitt ausgewichen sind, der von unzähligen groÃen Kuhfladen vermint ist, kommen wir zu einem dichten Kiefernwald. Ich bin inzwischen total erschöpft.
»Komm, lass uns bis nach Schongau weiterfahren«, schlägt Jutta vor.
»Ich glaube nicht, dass ich das schaffe«, gebe ich zerknirscht zurück.
Wir befinden uns in Reichling, einem verschlafenen, menschenleeren Provinzkaff, das zumindest den Anschein jener unruhigen Leichtigkeit mancher Filme von Alfred Hitchcock zu bewahren scheint. Einer dieser Orte, von denen man sagen würde: »Von hier geht keiner weg, keiner kommt her, und vielleicht stirbt auch keiner.« Tatsächlich sind wir an diesem Abend um diese Zeit mutterseelenallein in Reichling. Und kein offenes Gasthaus weit und breit!
»Nein, warte«, rufe ich. »Da hinten ist eins, an der Ecke des Platzes.«
»Sonntags Ruhetag«, liest Jutta vor.
»Heute ist Sonntag!«, stöhne ich entsetzt.
Doch es hilft nichts. Das nächste Dorf ist acht Kilometer entfernt, und es beginnt zu regnen.
»Wir können nichts anderes tun, als zu klingeln und den Wirt um eine warme Suppe und ein Bett zu bitten.« Jutta ist diejenige, die die Initiative ergreift.
»Aber das können wir nicht, es ist geschlossen«, erwidere ich resigniert
Nur die Müdigkeit und die unglaubliche Frechheit meiner Lebensgefährtin können uns zwingen, an einem Sonntagabend im einzigen (geschlossenen!) Gasthaus einer kleinen Gemeinde mit sechzehnhundert Seelen eine warme Mahlzeit und ein Glas Bier zu erbetteln. Angesichts der Entschlossenheit von »Schwester Lotte« und ihrer hervorsprudelnden, aber ausführlichen Schilderung unseres langen, anstrengenden Tages empfangen uns die Besitzer des Gasthauses, Mutter und Tochter. Es gibt wohl kaum jemanden, der amüsanter ist als Jutta, wenn sie wie ein Wasserfall redet; nicht einmal ein DJ wäre imstande, eine druckreife Rede in nur zehn Sekunden zu halten und dabei auch noch so überzeugend zu sein!
Jedenfalls bitten uns die beiden angesichts der Ãberzeugungskraft von Juttas Wortschwall, ein wenig geehrt durch unsere Gegenwart und vielleicht auch ein bisschen mitfühlend, mit einem breiten Lächeln unter einen weiÃen Sonnenschirm, der uns vor dem Regen schützt. Und hier esse ich, neben einer dünnen Suppe mit GrieÃklöÃchen, in der einsam und traurig ein paar Ravioli schwimmen, zwischen denen sich winzige Frittatenstreifen vergeblich zu behaupten versuchen, das beste Wiener Schnitzel meines Lebens.
Jawohl, in Reichling!
Nach dem Austausch von Höflichkeiten
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