Wir haben keine Angst
einfach keine Sekunde länger ertragen und die Anzeige auf dem Steptrainer, die ihr die verbrannten Kalorien anzeigte, war mindestens so beruhigend wie das Gefühl, Punkte auf ihrer To-Do-Liste abzuhaken.
Um zehn hat Anna eine Freundin und deren Wochenend-Besuch zum Frühstück getroffen. Anna hat viel über ihren Job geredet, bescheiden wie immer hat sie mit den Schultern gezuckt als die bewundernden Blicke sie trafen. »Wow, da bist du ja echt gut dabei«, hatte einer der Typen anerkennend gesagt. In genau diesem Moment klingelte passenderweise auch noch Annas iPhone. Ihre Chefin wollte einen Kontakt von ihr. Anna rollte mit den Augen. »Sorry, was hattest du grad gesagt?«, fragte sie, als sie aufgelegt hatte, und lächelte entschuldigend.
Während dann so alle ihre Gurkenscheibchen aßen, ihre Croissants mit Orangenmarmelade beschmierten, noch eine Portion Frischkäse mit Rucola und getrockneten Tomaten nachbestellten und ihre weichgekochten Eier vor sich hinköpften, hatte Anna sich umgesehen und all die Leute im Café beobachtet. Irgendwie hatte sie plötzlich alles von oben gesehen. Und sich selber mittendrin. Ich bin gut dabei, dachte sie. Und war zum ersten Mal nach langer Zeit sogar ein bisschen stolz auf sich.
Zu Hause hat Anna danach das Bad geschrubbt, gesaugt, gebügelt, Staub gewischt, Fenster geputzt, ihre Mutter angerufen, aufgeräumt, die Blumen umgepflanzt und nach drinnen geholt, eine Tüte für die Altkleidersammlung gepackt, Flüge für ihre Eltern gebucht, ihrer Oma eine Postkarte und die Reisekostenabrechnungen fürs gesamte letzte Jahr geschrieben.
Danach hat sie auf der iPod-Docking-Station im Wohnzimmer laut Musik aufgedreht und sich eine große Kanne grünen Tee gekocht. Sonntags lässt Anna die Kontaktlinsen in den Schälchen und trägt nur ihre große schwarze Brille. Sie steckt sich ihre Haare hoch, läuft in ihrer Gammeljeans und dem Little-Miss-Sunshine-Shirt, das ihr ihr Exfreund geschenkt hat, barfuß eine Runde durch die Wohnung. Anna hat keine Lust rauszugehen, das Kaffeedate mit Katrin verschiebt sie auf eine Stunde später. Am Sonntag lässt die To-Do-Liste solche spontanen Planänderungen zu. Anna schmeißt sich auf ihr Sofa unter die Bogenlampe. Draußen hängen die dunklen Wolken tief. Hinter Anna an der Wand strahlt über dem Sofa in kräftigem Rot das obligatorische »Keep calm and carry on«-Poster. Feist singt »1, 2, 3, 4«. Das Orthomol-Fläschchen hat heute weniger bitter als sonst geschmeckt. Anna gönnt sich eine Milchschnitte.
»I feel it all, I feel it all«, summt sie. Ihre nackten Füße baumeln im Takt auf dem Parkett. Anna lächelt allein in ihrem Wohnzimmer.
*
Bastian ist doch noch rausgegangen. Das Toast war irgendwann alle. Döner hatte er heute Morgen um vier schon. Pizza die ganzen letzten drei Tage davor. Und die Mensa hat sonntags zu. Jetzt steht er bei Lidl im Gang und sucht die Nudeln. Er hat Hunger.
Um Bastian herum stehen nur fertige Typen. Richtig harte Freaks. Der Lidl am Bahnhof ist der einzige Laden, der sonntags offen hat. Hier treffen sich sämtliche Penner, dicke Frauen, die kein Deutsch können, mit fünf kleinen Kindern im Gepäck, vereinzelte verschrobene Typen, die mit sich selber sprechen. Die Hälfte der Leute ist besoffen, die andere verrückt. Vor Bastian steht eine irre alte Frau mit fettigen Haaren. Sie tritt gegen den Leergutautomaten. Fünfundneunzig Flaschen hat der Automat gezählt. Jetzt streikt er. Bastian dreht durch. Er muss hier sofort raus. Raus aus diesem krassen Fegefeuer der sozial Abgestürzten, weg von diesem Flashmob sämtlicher Asis in town, in den er nur aus Versehen geraten ist.
Draußen auf der Straße atmet er tief durch. Er zieht sich seinen grauen Kapuzenpulli tiefer übers Gesicht. Bastian hat noch nicht geduscht, er hat Kopfschmerzen von gestern, er fühlt sich elend. Die Stimmung ist irgendwie gekippt. Bastian spuckt sein Hubba Bubba aus und zündet sich eine Kippe an.
Die Tanke hat auch Nudeln. Ein Glück.
*
Anna ist auf dem Weg zurück nach Hause. Vorhin wurde auf einmal doch alles wieder stressig, Katrin konnte sie nicht verschieben, das Telefon klingelte ständig, ihre Chefin rief noch dreimal an, um irgendwas nachzufragen. Anna tat, als habe sie nur darauf gewartet. Und kam deshalb zu spät zu Katrin.
Mit Katrin hat Anna früher Tennis gespielt. Sie hat sie im selben Café wie heute Morgen die anderen getroffen. Katrin ist wegen ihres Freundes zurück in die Stadt gezogen, die beiden wohnen
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