Wir haben Sie irgendwie größer erwartet
Flaum auf dem Kinn gewachsen war, um den Kauf eines eigenen Rasierers zu rechtfertigen. Erst in der Nacht der Konfrontation mit Wotan hatte er seinen Irrtum plötzlich einsehen müssen. Zu dem Zeitpunkt liebte er Floßhilde, genau in dem Moment, als sie zu existieren aufhörte. Diese Vorstellung war so grauenhaft gewesen, daß er sie gleich unterdrückt hatte. Doch jetzt war sie ganz überraschend aufs neue aufgetaucht, und Malcolm wußte wirklich nicht, wie er sie jemals wieder loswerden sollte. Der Kummer, den er über den Verlust von Ortlinde gehabt hatte, war nur wenig mehr als Mitleid mit der Walküre gewesen – aber die Rheintochter brauchte er wirklich. Der Gedanke, ohne sie zu leben, war schon schlimm genug, aber die Vorstellung, ohne sie in Walhalla zu wohnen oder Herrscher des Universums zu sein, war geradezu unerträglich.
Malcolm schüttelte den Kopf und schenkte sich noch einen Schnaps ein. Es hatten erst viele bedeutsame und schreckliche Dinge geschehen und sämtliche Götter untergehen müssen, um Malcolm Fisher die Bedeutung des Wortes ›Liebe‹ beizubringen. Hätte er damals in der Schule seinem Englischlehrer mehr Aufmerksamkeit geschenkt, überlegte er, wäre der ganzen Welt vielleicht ein große Menge Ärger erspart geblieben. Er nahm die Lokalzeitung in die Hand und erblickte das Foto einer großen Frau und eines Manns mit riesigen Ohren, die zusammen vor einer Kirche standen. Liz Ayres hatte Philip Wilcox geheiratet. Malcolm lächelte, denn diese Neuigkeit berührte ihn überhaupt nicht. Je eher er aus diesem Haus auszog, desto besser.
Irgend jemand hatte die Verandatür offengelassen. Er stand auf und schloß sie, da die Nachtluft recht kalt war. Immerhin war der Sommer vorbei, und es wäre unmoralisch gewesen, ihn bloß zur eigenen Annehmlichkeit zu verlängern. Dieses Jahr hatte der Sommer sowieso eigenartige Züge gehabt, deshalb war es schon ganz in Ordnung, daß er jetzt vorbei war. Die Welt konnte sich langsam abkühlen, und er selbst konnte es wieder mit gutem Gewissen regnen lassen.
»Warum mache ich das alles überhaupt?« fragte er sich laut.
Jetzt verstand er die ganze Sache endlich. Das war alles sonnenklar, aber er war so dumm gewesen, daß er es vorher nicht durchschaut hatte. Die inzwischen von den Göttern befreite und allgemein bereinigte Welt gehörte nicht mehr in seine Hände. Er mußte den Ring seiner Schwester Bridget geben. Schließlich war sie älter als er – und viel schlauer – und überhaupt besser geeignet, schwierige Probleme anzupacken. Er selbst war nur der Mittelsmann. Nun nahm alles seinen richtigen Gang, und Malcolm spürte, wie ihm eine große Last von den Schultern genommen wurde. Hätte er das doch bloß schon früher getan, dann wäre Floßhilde nicht zum Untergang verurteilt gewesen, und er selbst hätte womöglich sogar ein Happy-End erlebt. Aber er war eben töricht und eigensinnig gewesen, so wie es seine Mutter von ihm erwartet hätte. Er hatte seine Strafe bekommen, und jetzt war keine Zeit mehr zu verlieren. Wie es ihm schon von Anfang an klargewesen war, war Bridget dasjenige Mitglied der Familie Fisher, das dem ruhmreichen Siegfried am meisten ähnelte. Diese Tatsache erklärte auch, warum Ingolf so erstaunt gewesen war, als er Malcolms Namen gehört hatte; er hatte nämlich in jener verhängnisvollen Nacht Bridget Fisher erwartet.
Malcolm blickte auf seine Uhr und versuchte auszurechnen, wie spät es gerade in Sydney war. Hatte nicht sogar Erda etwas darüber gesagt, der Ring sei Bridgets rechtmäßiges Eigentum, weil sie die Älteste sei? Es würde natürlich nicht ganz einfach sein, seiner Schwester das alles zu erklären, zumal sein Wort im Familienkreis nur wenig Glaubwürdigkeit besaß. Wenn Malcolm etwas sagte, hielt man gewöhnlich das Gegenteil für wahr. Aber Bridget war schlau und würde im Gegensatz zu ihrer Mutter sofort alles verstehen. Mit etwas Glück ließen sie ihm vielleicht den Tarnhelm, doch falls Bridget ihn brauchen sollte, mußte sie ihn natürlich auch kriegen. Malcolm kippte den Rest des Getränks hinunter und verlangte einen Mantel.
Er warf einen kurzen Blick in den Spiegel, um sicherzugehen, daß seine Frisur auch ordentlich und gepflegt war (in solchen Dingen war seine Mutter außerordentlich pingelig), und sah zu seinem Erstaunen, daß er überhaupt nicht wie Malcolm Fisher aussah. Da erst fiel ihm ein, daß er noch immer den Tarnhelm auf dem Kopf hatte. Den brauchte er natürlich, um nach Australien zu
Weitere Kostenlose Bücher