Wir haben Sie irgendwie größer erwartet
Taube schwieg wieder.
»Wie kommt es, daß ich deine Gedanken manchmal nicht lesen kann?« fragte Malcolm. »Das ist jetzt schon zwei-, dreimal passiert.«
»Ich denke nicht soviel, sondern halte eher so etwas wie einen Gedankenaustausch ab.«
»Mit wem?«
»Woher soll ich das wissen?« zischte die Taube plötzlich schlechtgelaunt. »Mit Erda, habe ich immer angenommen. Mach schon, versuch’s doch auch mal.«
Malcolm versuchte es und schloß die ganze Welt in seine Gedanken mit ein. Als er nur äußerst schrecklichen Lärm wahrnahm, schaltete er ab. »Nichts, ich höre nur eine Menge Stimmen.«
»Oje, so ist das also!« staunte die Taube, und Malcolm las Unwohlsein und sogar Ehrfurcht in ihren Gedanken. »Jetzt verstehe ich.«
»Du denkst gerade, ich bin’s, mit dem du Zwiesprache hältst, richtig?« Malcolm war derart erstaunt, daß er sich unbeabsichtigt in einen Stein verwandelte.
»Es sieht ganz so aus«, antwortete die Taube und fügte ehrfürchtig hinzu: »Mein Herr und Gebieter.«
»Nun mach schon!« forderte er die Taube auf. »Du und meine unsterbliche Seele führen offenbar gerade ein munteres Zwiegespräch. Nimm auf mich keine Rücksicht.«
»Das muß aber sehr enttäuschend für dich sein, nicht daran teilnehmen zu können, zumal der Kontakt wirklich sehr gut ist. Wenn du es hören könntest, gefiele es dir sogar.«
»Was hat sie denn als letztes gesagt?«
»Nun, sie hat unterstellt, daß du zwar weder gescheit noch edelmütig, furchtlos, mutig, listig oder sonst was in dieser Richtung bist …«
»Das hört sich ganz nach mir an«, warf Malcolm ein.
»… aber wahrscheinlich der einzig nette Mensch in der Geschichte, der Pech und Elend anerkennt.«
»Nett?«
»Einfach nur nett.«
»Hältst du mich wirklich für nett?« fragte Malcolm errötend.
»Wo ich herkomme, ist das nicht unbedingt ein Kompliment. Außerdem habe ich das nicht gesagt, sondern du selbst. Du bist nur nicht in der Lage gewesen, dich selbst denken zu hören. Wenn man allerdings darunter versteht, daß du anständig und harmlos bist und keiner Fliege etwas zuleide tun kannst, ja, dann bist du wahrscheinlich nett. Die anderen Besitzer des Rings sind auf die ein oder andere Weise echte Scheißkerle gewesen.«
»Selbst Siegfried?«
»Siegfried war sehr leicht erregbar. Wenn sein Haferbrei nicht richtig schmeckte, warf er die Schale einfach quer durch den Saal.«
Malcolm rieb sich die Augen. »Und allein meine Nettigkeit soll die Welt retten? Stimmt das wirklich?«
»Schon möglich, aber wer weiß? Du mußt dir nur immer wieder einreden: Ich will nicht, daß heute irgend jemandem auf der Welt was zustößt. Dann werden wir ja sehen, ob sich dadurch was ändert.« Die Taube drehte den Kopf nach hinten und blickte zur Sonne, deren Licht allmählich schwächer wurde. »Es wird Zeit, daß ich mich auf den Weg mache. Da draußen liegt ein schönes Rapsfeld, bei dem ich auf meinem Nachhauseweg noch vorbeischauen möchte. Die haben da einen von diesen Apparaten drauf, die alle zehn Minuten einen Schreckschuß abgeben, aber wen kratzt das schon? Mir gefällt die Gegend hier. Ich wollte mich schon immer irgendwo an der Küste zur Ruhe setzen.«
»Und das war alles? Ich brauche mir lediglich nette Gedanken machen?«
»Probier’s einfach. Wenn’s nicht funktioniert, versuch etwas anderes. Du machst das schon. Es war mir eine Ehre, dich kennengelernt zu haben. Aber paß noch eine Weile auf die Götter und die Völsungen auf, die sind bestimmt hinter dir her.«
»Können die auch Gedanken lesen?«
»Nein, aber Wotan hat zwei sehr gescheite Raben, obwohl ich nicht glaube, daß sie dich so leicht finden. Der Tarnhelm verhüllt auch deine Gedanken, außer auf kurze Distanz, und die Welt ist groß. Mit dem Tarnhelm bist du im Vorteil. An deiner Stelle verhielte ich mich in Zukunft allerdings etwas unauffälliger. Er ist nicht gerade klug, wie jemand herumzulaufen, der schon seit tausend Jahren tot ist.«
»Du meinst wie Theseus?«
»Wer ist das? Nein, ich meine wie Siegfried oder, da wir gerade davon sprechen, wie Brünnhilde.« Die Taube schlug mit den Flügeln, sagte: »Danke für die Krümel«, und flog davon.
Einen Augenblick lang verstand Malcolm nicht, wie die Taube das mit Siegfried gemeint hatte und erst recht nicht das mit dieser Brünnhilde – schließlich hatte er sich heute erst ein einziges Mal in eine Frau verwandelt.
Dann stellte er sich vor den Spiegel und rief: »Schnell, erst Siegfried, danach
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