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Wir haben Sie irgendwie größer erwartet

Wir haben Sie irgendwie größer erwartet

Titel: Wir haben Sie irgendwie größer erwartet Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Tom Holt
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sich aufs sorgfältigste damit. Da er im Grunde allmächtig war, überraschte es keineswegs, daß er sogar ein Blatt Papier lesen konnte, wenn es eindeutig auf dem Kopf stand.
    »Wir haben dort Ortlinde getroffen«, löste Floßhilde, die bisher noch nichts gesagt hatte, das Rätsel auf. Wotan, der offensichtlich in das Dokument vertieft war, gab keine Antwort. Plötzlich lächelte Floßhilde die Papiere in Wotans Händen an, woraufhin sich diese in einen kleinen Drachen verwandelten. Erschreckt ließ Wotan das Untier fallen, das schnell unter den Tisch krabbelte. »Was in aller Welt hat Ortlinde denn da gemacht?«
    Die Norne hielt sich die Augen zu. Erstens mochte sie die Rheintöchter, mit denen sie früher stundenlang den neuesten Klatsch ausgetauscht hatte, sehr gern, und zweitens war Floßhildes vor derart vielen Zeugen aufgeführtes Zauberkunststück ein solch klarer Fall von hochverräterischem Angriff auf den König der Götter, wie man ihn sich schöner nicht wünschen konnte. Auf ein derartiges Vergehen stand die augenblickliche Verwandlung – normalerweise in irgendeinen Busch. Und schließlich war drittens allgemein bekannt, daß Wotan schon sehnsüchtig auf einen Vorwand wartete, um die Rheintöchter endlich loszuwerden, seit sie zum erstenmal aus den Wassern ihres Heimatflusses gestiegen waren. Nur sehr langsam und ängstlich ließ die Norne die Hände sinken; aber die Mädchen standen noch immer da, und das nach wie vor in menschlicher Gestalt.
    »Das möchtest du wohl gern wissen, wie?« fragte Floßhilde schnippisch. »Nun gut, sie hat versucht, dem Ringträger unseren Ring abzuluchsen, den du uns übrigens schon vor tausend Jahren zurückgeben solltest. Könntest du ihr bitte ausrichten, daß sie endlich damit aufhören und verschwinden soll?«
    Die Norne hielt sich abermals die Augen zu, doch es bestand gar kein Grund zur Sorge. Wotan sah einfach woanders hin und warf dem kleinen Drachen, der sich mittlerweile auf dem Schoß des Gottes zusammengerollt hatte, ein Stückchen Käse hin.
    »Wenn du das nicht tust«, warnte ihn Floßhilde mit heller, aber keineswegs schriller Stimme, »sagen wir dem Ringträger, wer Ortlinde in Wirklichkeit ist. Hast du gehört?«
    Es trat eine furchterregende Stille ein. Noch nie zuvor hatte es ein Lebewesen gewagt, sterblich oder unsterblich, dem Herrn der Stürme in der großen Halle seiner eigenen Festung zu drohen. Sogar der Steintroll hielt den Atem an. Das einzige hörbare Geräusch auf der ganzen Versammlung war das Schlagen seines Herzens aus Basalt. Wotan saß einen Moment lang vollkommen reglos da, dann schnellte er jäh hoch, was den kleinen Drachen veranlaßte, blitzschnell Schutz unter einem Couchtisch zu suchen. Der König der Götter blickte der Rheintochter direkt in die Augen, und der Norne stockte der Atem. Dann schüttelte der oberste Gott ungläubig den Kopf und marschierte schnurstracks aus dem Saal.
    »Nicht über den Holzboden! Den habe ich den ganzen Morgen lang gebohnert!« jammerte die Walküre Gerhilde, aber ihren Vater schien das nicht zu scheren. Die Versammlung löste sich in allgemeinem Durcheinander auf, und der Troll und die Norne stürzten in die Kneipe Zum Sterblichen, um sich einen dringend benötigten Drink zu genehmigen.
    »Also, ich weiß nicht«, begann der Steintroll, »so was habe ich noch nie gesehen.«
    »Er hat einfach nur dagesessen«, wunderte sich die Norne.
    »Wer denn?«
    »Na, Wotan. Als Flossi die Papiere in einen Drachen verwandelt hat. Ich habe gedacht, das bedeutet für sie mindestens München, Englischer Garten, aber er hat einfach nur dagesessen und überhaupt nichts getan.«
    »Das habe ich nicht gemeint«, entgegnete der Steintroll. »Ich habe von der anderen Sache gesprochen.«
    Die Norne hörte gar nicht zu. »Ich wüßte wirklich gern, wer hier eigentlich wen aufs Glatteis führt. Haut das Mädchen Wotan übers Ohr, oder verschaukelt Wotan das Mädchen? Oder bluffen beide nur?«
    Der Troll runzelte die Stirn und kratzte sich am Kopf, was wie das Knirschen zweier Mühlsteine klang. »Wovon redest du eigentlich?«
    »Meine Güte! Du bist auch nicht gerade ein Schnelldenker, wie? Wenn die Mädels Ortlinde wirklich daran hindern wollten, den Ringträger reinzulegen, warum haben sie dem Kerl dann nicht einfach erzählt, wer sie ist, statt hierherzukommen und Wotan zu drohen?«
    Der Troll dachte darüber nach und nickte schließlich. Er war längst nicht so grau und verkalkt, wie sein Granitkörper aussah, und

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