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Wir haben Sie irgendwie größer erwartet

Wir haben Sie irgendwie größer erwartet

Titel: Wir haben Sie irgendwie größer erwartet Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Tom Holt
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eine eigene Kurzschrift entwickelt. Er warf eine Reihe von Schnörkeln unter die letzte vernünftige Bemerkung, die er hatte protokollieren können, und fing an, Seeschlangen zu zeichnen.
    Die Diskussion hatte sich mittlerweile zum Problem unverschlossen stehengelassener Gläser hinbewegt, als plötzlich ein Steintroll, der die Konflikte zwischen den ihm überlegenen Mitgliedern des Göttergeschlechts ausgiebig genossen hatte, etwas aus den Augenwinkeln heraus bemerkte. Er stieß die neben ihm sitzende graublonde Norne an, die gerade einen Pullover strickte, woraufhin sich die beiden umdrehten und auf die Saaltür starrten. Nach und nach stellten erst die niederen Gottheiten, dann das uralte Göttergeschlecht der Wanen und schließlich die ranghohen Götter selbst die Debatte ein und blickten voller Erstaunen die drei sehr hübschen Mädchen an, die durch die Tore von Gylfi getreten waren.
    Es war mindestens tausend Jahre her, seit die Rheintöchter, die für den prächtigsten Fluß Europas verantwortlich waren, zum letztenmal an einer Mittwochnachmittagversammlung teilgenommen hatten. Bis auf Wotan und Loge konnte sich eigentlich niemand recht erinnern, warum sie damals nicht mehr gekommen waren. Einige behaupteten, sie wären von der Versammlung ausgeschlossen worden, weil sie während der großen Flut mit den Wolkenhirten geflirtet hatten. Andere wiederum schrieben es der angeborenen Leichtfertigkeit und Gleichgültigkeit der Mädchen zu. Wotan und Loge wußten jedoch noch, daß die drei Flußgeister nach der hitzigen Debatte im Anschluß an den Raub von Alberichs Ring in Tränen aufgelöst die Versammlung verlassen hatten und seitdem nie wieder zurückgekehrt waren, wenngleich die beiden Götter diese fortwährende Abwesenheit korrekterweise eher auf Vergeßlichkeit als auf Mutwilligkeit zurückführten.
    »Nein, so was«, flüsterte die Norne dem Steintroll zu. »Schau mal, wer da ist!«
    Der Steintroll nickte. Da er zu Anbeginn der Urzeit aus massivem Granit erschaffen worden war, kostete ihn diese Bewegung zwar erhebliche Anstrengung, doch das war es ihm wert. »Das sind die Mädchen!« zischte er durch seine Diamantzähne.
    Wotan höchstpersönlich brach schließlich das Schweigen. »Was wollt ihr denn hier, verdammt noch mal?« fauchte er die Rheintöchter an.
    »Wir haben uns gedacht, wir schauen einfach mal vorbei und sagen guten Tag«, antwortete Wellgunde brav. »Ist ja schließlich schon Ewigkeiten her, daß wir uns alle gesehen haben.«
    Als nun sämtliche Unsterblichen die verlorengeglaubten Mitglieder der Gesellschaft begrüßten, wich die Stille einem allgemeinen Stimmengewirr. Am lautesten war eine Gruppe von Wolkenhirten, die vor mehreren Jahrhunderten an der Stelle, wo heute Manchester liegt, ein gemeinsames Picknick mit den Rheintöchtern verabredet und seither dort auf sie gewartet hatte. Nur die Walküren und ihr Vater waren über das Wiedersehen mit den Rheintöchtern alles andere als erfreut. Wotan glaubte nämlich, den Grund ihres Besuchs zu wissen, während sich seine Töchter sicher waren, daß sich die Rheintöchter vor dem Betreten des Saals garantiert nicht die Füße abgetreten hatten.
    »Also gut, und was habt ihr die ganzen Jahre so getrieben?« erkundigte sich Wotan, als sich der Lärm endlich gelegt hatte.
    »Hauptsächlich sonnenbaden«, antwortete Wellgunde wahrheitsgemäß. »Vergeht die Zeit nicht wirklich wie im Flug, wenn man mal ein wenig ausspannt?«
    »Manche Leute haben’s gut«, flüsterte die Norne dem Troll zu, doch der schien beunruhigt zu sein.
    »Irgendwas passiert gleich«, wisperte er, wobei er geräuschvoll herumschnüffelte, als versuche er einen ungewohnten Geruch zu bestimmen.
    »Ist das alles?« fragte Wotan mit hektisch-fröhlichem Lachen. »Oder habt ihr auch mal gearbeitet?«
    »Das hängt ganz davon ab, was du als Arbeit bezeichnest«, entgegnete Wellgunde. »Der Fluß läuft ja irgendwie von selbst. Aber wir haben auch einen Blick auf andere Flüsse geworfen, um zu sehen, ob wir uns vielleicht ein paar neue Anregungen holen können.«
    »So eine Art Austauschbesuch«, fügte Woglinde hilfsbereit hinzu.
    »Zum Beispiel haben wir uns in England einen Fluß namens Tone angesehen«, fuhr Wellgunde fort. »Leider hat das nicht besonders viel gebracht.«
    »Aber ratet mal, wer uns da über den Weg gelaufen ist«, säuselte Woglinde. »Na los, nun ratet mal!«
    »Ich hasse Ratespiele«, erwiderte Wotan gereizt. Er nahm sich ein Dokument vor und beschäftigte

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